piwik no script img

Temeswarer wollen eine zweite Revolution

In Temeswar und Bukarest gehen die Proteste gegen die rumänische Interimsregierung unter Staatspräsident Iliescu weiter / Gefordert wird die Nichtzulassung von Kommunisten bei den Wahlen, der Rücktritt des Innenministers und die Veröffentlichung der Namen der Securisten  ■  Von Erich Rathfelder

Als sich gestern mittag mehr als 15.000 Menschen in Temeswar in Bewegung setzten, war der vorläufige Höhepunkt einer Welle von Demonstrationen, die seit einer Woche in Rumänien für Furore sorgen, erreicht. Mit Sprechchören wie „Iliescu, zweiter Ceausescu“ und „Nieder mit der Securitate“ forderten sie den Rücktritt des Interimspräsidenten. In einem Appell verlangten sie die Veröffentlichung einer Informantenliste der ehemaligen Geheimpolizei Securitate.

Anders als in Bukarest, wo zwar täglich, auch am Sonntag, Tausende von Studenten, Oppositionelle jeglicher Couleur und Mitglieder der neu gegründeten Parteien auf dem Universitätsplatz gegen die Regierung Iliescu und die „Front der Nationalen Rettung“ demonstrierten, die Regierung am Freitag aber ihrerseits Zehntausende für ihre Politik mobilisieren konnte, ist die politische Haltung der Temeswarer ziemlich einhellig.

Den Aufruf der „Nationalen Allianz für den Sieg der Revolution“ haben über hundert Organisationen unterschrieben. Und in diesem Aufruf wird nicht nur die Verschiebung der Wahlen verlangt - für die Parteien der Opposition kommen die Wahlen noch zu früh, zumal die Regierung die elektronischen Massenmedien kontrolliert.

Die Unterzeichner fordern auch den Rücktritt des Innenministers Mihai Chitac, dem Beteiligung an dem brutalen Vorgehen gegen Demonstranten wärend der Revolution vorgeworfen wird, sowie etwas unscharf die „Eliminierung des Kommunismus aus dem öffentlichen Leben“.

Kern der Forderungen ist Punkt acht der „Proklamation von Temeswar“, die Mitte März von einigen demokratischen Organisationen verabschiedet wurde und die seither als Plattform der demokratischen Opposition im ganzen Land gelten kann. In diesem Punkt wird vorgeschlagen, „daß das Wahlgesetz für die ersten drei Legislaturperioden den ehemaligen Parteifunktionären und Securitate-Leuten jedwede Kandidatur untersagen“ soll. „Außerdem fordern wir, daß für das Amt des Staatspräsidenten kein ehemaliger KP-Funktionär kandidieren darf“, heißt es in der Proklamation, mit der die Opposition endgültig den Fehdehandschuh in Richtung Iliescu und Front hingeworfen hat. Denn in der Wiege der rumänischen Revolution, in Temeswar, der Stadt, in der am 16. Dezember der Volksaufstand begann und deren Bevölkerung sich im Gegensatz zu anderen Landesteilen eine demokratische Tradition zugute hält, wird öffentlich ausgedrückt, daß es einer zweiten rumänischen Revolution bedarf.

Iliescu und die Seinen haben den Fehdehandschuh aufgenommen. Der Staatspräsident griff am Freitag auf der von der Front einberufenen Massenversammlung die Organisatoren der Demonstrationen vor der Universität in Bukarest scharf an. Fast im aus der Ceausescu-Zeit wohlbekannten, alten Sprachstil erklärte der Führer der Front - immer wieder von „Iliescu, Iliescu, weiche nicht„ -Rufen unterbrochen -, die Demonstranten stellten eine „konterrevolutionäre Bewegung“ dar, die über keinen Rückhalt in der Bevölkerung verfüge und nur den Wahlprozeß stören wolle. Die Forderung der demokratischen Bewegung nach Verschiebung der Wahlen lehnte der ehemalige Kommunist kategorisch ab.

Stärker als zuvor stützt sich Iliescu seit dem Parteitag der Front vor einigen Wochen auf alte Kader. Männer aus dem liberalen Flügel der Front wie der Kulturminister Plesu, der Schauspieler Caramitru und der Dichter Dinescu wurden damals ihres schon vorher geringen Einflusses im Machtzentrum gänzlich beraubt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen