Kreuzberger verlassen zum 1. Mai ihren Kiez

Trotz Mauerfall in Berlin: Die Randale im Westberliner Bezirk zum Tag der Arbeit ist vorprogrammiert / Selbst ehemalige Hausbesetzer flüchten nach Westdeutschland / Polizei rüstet auf, Ladenbesitzer verbarrikadieren sich  ■  Aus Berlin Brigitte Fehrle

Es gab eine Hoffnung: Der erste Mai in Kreuzberg, in den letzten drei Jahren zum toten Randaleritual verkommen, würde durch die Öffnung der Mauer zu neuem Leben erwachen. Eine Zeitlang geisterten deutsch-deutsche Ideen durch den Kiez. Nicht Kreuzberg sollte Schauplatz einer Gegenveranstaltung zur traditionellen Gewerkschaftskundgebung sein, den Prenzlauer Berg in Ost-Berlin wünschte man sich. Durch den Austausch mit Gruppen im Osten, so die leise Hoffnung, würde der Kreuzberger 1.Mai wieder zu dem werden können, als das er Anfang der 80er Jahre gedacht war: ein Fest, das den alltäglichen Widerstand dokumentiert, wo gemeinsam gefeiert, wo informiert und diskutiert wird. Und wo deutlich gezeigt werden kann, es gibt auch eine Arbeitertradition jenseits der Gewerkschaften und Parteien.

Doch die Mauer in den Köpfen scheint härter als der Beton am Brandenburger Tor. Für diejenigen, für die Randale Programm ist, hat die Öffnung der Mauer das Aktionsfeld bestenfalls erweitert. Schon vor Wochen tauchten die ersten Plakate in Kreuzberg auf, die zur Teilnahme an der „revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ und zum Fest auf dem Lausitzer Platz beziehungsweise dem angrenzenden Park auf dem Gelände des ehemaligen Görlitzer Bahnhofs aufriefen. Unter der Überschrift „Für einen offensiven 1.Mai“ kündigten VertreterInnen einer „linksradikalen autonomen“ Politik „kontrollierte Angriffe“ auf Sexshops, Spielhallen und Banken an. Die nächtliche Randale am 20.April, die vorwiegend von türkischen Jugendlichen bestritten wurde, machte dem letzten klar, daß die Hoffnung auf einen friedlichen 1.Mai vergebens ist. Unter der Überschrift „Besetzt alles“ gab es auch in den letzten Monaten zahlreiche Aktionen. In Kreuzberg, wo einfach nichts mehr leersteht, trifft es das Büro der Alternativen Liste, die Räume der „Wigwam-Dealer“, wie der Verein SO36 kürzlich tituliert wurde, oder den leerstehenden Dachboden eines Selbsthilfehauses. Besetzen ist Teil eines Programms, das sich „proletarischer Kampf“ nennt und sich als ideologische Klammer und Legitimation für Randale pseudorevolutionärer Terminologie bedient.

Innensenator Erich Pätzold (SPD) möchte gerne noch eine Weile Innensenator bleiben. Über Kreuzberger Krawalle jedenfalls will er nicht stolpern. Im letzten Jahr hat ihn die Polizei ins offenen Messer laufen lassen und das von ihm propagierte Prinzip der „Deeskalation“ bewußt mißverstanden. Der Versuch des Innensenators, durch defensives Polizeiverhalten Randale nicht zu provozieren, wurde von der Polizeiführung mit Untätigkeit konterkariert. Als späte Rache für Rot-Grün in Berlin wollte die Berliner Polizeiführung dem Innensenator zeigen, wer Herr im Hause ist. Das will Pätzold nicht noch einmal erleben, obwohl im die Schlappe im Jahr 1989 letztlich genutzt hat.

Denn es hat ihm nicht nur dabei geholfen, die Umstrukturierung in der Polizeiführung zu rechtfertigen, auch die Akzeptanz im linksalternativen Milieu gegenüber der Polizei ist merklich gestiegen. Die „Reformgruppen“ im Kiez, die Ex-Besetzer, Mieterläden und Stadtteilinitiativen, alle eindeutige Rot-Grün-Sympatisanten, haben die Randale im letzten Jahr mit anderen Augen angesehen. Die diffuse Solidarität mit Steinewerfern und Plünderern gegen den schwarzen CDU-Senat und Innensenator Wilhelm Kewenig wurde aufgekündigt.

Erstmals hat sich das linksalternative Spektrum in Kreuzberg im letzten Jahr eindeutig von der Randale distanziert. Die ideologische Rechtfertigung der Akteure soziales Elend, steigende Mieten, „Umstrukturierung“ im Kiez - wurde nicht mehr akzeptiert. In Zukunft, so hieß es im letzten Jahr, wolle man der Randale, dem Plündern, Autos anzünden und Scheiben einschmeißen nicht mehr tatenlos zusehen. Doch die Energie des Nachmai 1989 ist bis zum Vormai 1990 im Sande verlaufen. Man reagiert mit Verweigerung. Der Verein SO36, der seit vielen Jahren im Kiez Mieterberatung macht, wird in diesem Jahr weder an der Kreuzberger Demonstration teilnehmen noch am Fest. Als Begründung hieß es, derzeit sei es kaum möglich, „politischen Protest von sinnlosen Zerstörungen und Plünderungen“ zu trennen. Man wolle nicht zur „Manövriermasse für erneute unsinnige Aktionen“ werden, die sich nur gegen die Bevölkerung richteten. Vielfach wurde dazu aufgerufen, nicht aus Sensationsgier nach Kreuzberg zu fahren, der Radale nicht als „Kulisse“ zu dienen. Viele Kreuzberger aber fahren einfach weg, darunter auch welche, die Anfang der 80er noch selbst Häuser besetzten.

Die Dagebliebenen rüsten sich. Einschlägige Supermärkte, die in den letzten Jahren immer geplündert wurden, lassen ihre Scheiben mit Metallplatten versiegeln. Kleine Läden organisieren Wachen vor ihren Geschäften. Vor allem aber rüstet die Polizei. Seit Wochen fahren die Zivilstreifen durch den Kiez und beobachten. Uniformierte zeigen Präsenz. Die Polizei will nicht unbedingt draufhauen, aber der Innensenator will Kreuzberg am 2. Mai nicht in Scherben sehen.