Die postsozialistische Linke

Dany Cohn-Bendit über Wiedervereinigung und multikulturelle Gesellschaft  ■ D O K U M E N T A T I O N

Wir sind Augenzeugen einer epochalen Entwicklung und wundern uns, daß wir dabei nichts zu sagen haben. Seit dem 9. November ist die Linke ängstlich, weil sie Angst hat, sich der gesellschaftlichen Situation zu stellen. Es hat eine geschichtliche Explosion stattgefunden, die wir „technisch“, in ihrem Ablauf, nachvollziehen können. Als aber die Vereinigung der beiden deutschen Staaten plötzlich auf der Tagesordnung stand, haben große Teile der Linken gesagt: Deutschland ist nicht reif dafür, wir wollen diese Vereinigung nicht. Das war eine emotionale Antwort auf eine realgeschichtliche Horrorvision: „Deutschland einig Vaterland“. Diese Emotionalität habe ich geteilt, und es ist sicher eine ehrenwerte geschichtliche Position. Dennoch ist sie absolut daneben gewesen, weil sie dem historischen Prozeß, der in die Zukunft drängt, mit ihrem rückwärtsgewandten Blick überhaupt nicht gerecht werden konnte. Man kann gegen die Vereinigung sein - aus den bekannten historischen Gründen -, aber das ausschließlich geschichtliche Argument kann von der Mehrheit der Menschen, die nicht geschichtlich denken, sondern in der Gegenwart leben, nicht akzeptiert werden. Das ist eine Realität, mit der wir uns auseinanderzusetzen haben. Die Linken sollten nun aber nicht so tun, als würden sie stets geschichtlich argumentieren. Gerade sie haben im politischen Kampf für sozialistische und kommunistische Positionen eine geradezu bewundernswerte Fähigkeit entwickelt, sich extrem ungeschichtlich zu verhalten - etwa in ihrer Haltung zu den realsozialistischen Ländern, bei der Analyse der Entstehung des Nationalsozialismus und gegenüber der Geschichte des Stalinismus. Dieselbe Linke kann dem deutschen Volk nun keine historisch-moralische Lektion erteilen, die von niemandem - auch von ihr selbst nicht - auszuhalten ist, so schmerzhaft das auch sein mag. Deshalb ist die ganze Debatte über die „Zweistaatlichkeit“ absurd gelaufen. Wir haben unsere politischen Erfahrungen und Wünsche mit der Analyse der historischen Situation verwechselt. Unsere Hoffnung in den aufregenden Tagen des vergangenen Herbstes war, daß die Demokratiebewegung in der DDR eine gesellschaftliche Identität schaffen würde. Endlich war in Deutschland Demokratie aus eigener Kraft erkämpft worden - unser zweites Argument gegen die Vereinigung: Es gehe nicht um die Einheit Deutschlands, sondern um Demokratie und Freiheit. Das Dilemma bestand jedoch darin, daß die Linken die Spaltung zwischen der aktiven Demokratiebewegung und der Bevölkerung in der DDR nicht wahrgenommen haben. Der Fehler gerade vieler Intellektueller - hüben wie drüben - war, daß sie die DDR nie mit den Augen derer betrachtet haben, die dort „real“ lebten. Auch deshalb gab es in der DDR keine Kontinuität einer moralisch-intellektuellen Opposition wie in Polen oder der Tchechoslowakei. Für Intellektuelle in der DDR existierte die einzigartige Möglichkeit, Teil der herrschenden Schicht zu sein, vom Apparat bezahlt und privilegiert, und zugleich als ost-westliche Legitimationsinstanz einer begrenzten politischen Opposition zu fungieren. Ganz anders in Polen, wo Adam Mischnik dem damaligen Innenminister, der ihn in der Haft aufsuchte, sagte: „Ein freier Pole hat seinen Platz heute im Gefängnis.“ Als „Radio Free Europe“ dieses Wort verbreitete, reagierte die Mehrheit der großenteils antisemitischen Polen mit Identifikation: „Obwohl er Jude ist, ist er trotzdem ein Pole...“ Diese historische Identifikation zwischen Intellektuellen und Bevölkerung hat sich in der DDR nie herausgebildet. Es ist eine schlechte Tradition der Linken, auf das Volk zu schimpfen, wenn es sich „falsch“ verhält, und sich auf das Volk zu berufen, wenn es vor Atomkraftwerken demonstriert. Wir Linken haben mit den kühnsten theoretischen Entwürfen zu formulieren versucht, was die „objektiven Interessen“ des Volkes und der Geschichte sind, wie die „Befreiung der Massen“ ins Werk zu setzen sei. Heute wissen wir, daß „das Volk“ weder gut noch schlecht ist. Wenn es sich bewegt, hat es immer unmittelbare Gründe. Der große revolutionäre Irrtum war zu glauben, das Volk, „die Massen“ oder die Arbeiterklasse habe eine „historische Mission“. So ist die Linke stets dem Mythos „des Volkes“ gefolgt, das sich eines Tages - endlich - im Sinne seiner objektiven Interessen „richtig“ verhalten würde. Die Auseinandersetzungen, die der Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus uns aufzwingt, enthalten eine Bringschuld der Linken gegenüber der politischen Öffentlichkeit: Was ist - nach all den Erfahrungen - die politische Alternative zum westlich-kapitalistischen System? Die Antwort ist auch deshalb so schwierig, weil wir ab sofort ohne die geschichtsphilosophischen Krücken des Marxismus - auch seiner libertärsten Interpretationen auskommen müssen. Wer den Marxismus heute noch politisch retten will, muß zum absoluten Voluntarismus und zum Idealismus zurückkehren. Das heißt auch: Die traditionelle Theorie der gesellschaftlichen Emanzipation ist mit zusammengebrochen. Die westdeutsche Linke wird ihr Verhältnis zu dieser Gesellschaft und diesem Staat überdenken müssen. Wir haben ja immer gelacht, wenn konservative Politiker gesagt haben, die Westanbindung der Bundesrepublik bedeute die Zustimmung zur demokratischen Tradition Westeuropas und Amerikas. Für uns war das die Tradition der kapitalistischen Ausbeutung. Punktum. Heute sehen wir, daß sich in diesem real existierenden Kapitalismus auch eine „zivile Gesellschaft“ entwickelt hat, deren Freiheiten in den realsozialistischen Ländern undenkbar war. Diese eklatante Differenz zeigt sich auch in dem explosiven Anwachsen von Rassismus und Antisemitismus in der DDR, dem ohne die Auseinandersetzungsfähigkeit einer „zivilen Gesellschaft“ nichts entgegenzusetzen ist. Daß heute Juden in der Sowjetunion Angst vor Pogromen haben müssen, ist nicht nur Zeichen eines großen historischen Rückschritts, sondern auch der Beweis dafür, daß nur in einer demokratischen Gesellschaft die Chance besteht, Schutz für Minderheiten zu entwickeln. Und so wird plötzlich deutlich, daß wir in und an der Bundesrepublik auch etwas zu verteidigen haben. Die mitten in der kapitalistischen Marktwirtschaft „real“ entstandene multikulturelle Gesellschaft muß jetzt gegen nationalistische Tendenzen gestärkt werden, die gerade durch vierzig Jahre autoritären Sozialismus produziert wurden. Jeder Ansatz zu einer anderen gesellschaftlichen Entwicklung muß heute auf den Griff in die politische Mottenkiste der Linken verzichten, muß der Kritik die Vorstellung hinzufügen, wohin man will. Die historischen Erfahrungen der Völker Osteuropas zeigen, wie gefährlich es ist, wegzugehen, ohne zu wissen, wo man ankommt. Die politische Kritik hat mehr denn je die Aufgabe, die Strategien und Bedingungen der Veränderung einer Gesellschaft offen zu benennen. Die traumatischen Erfahrungen der europäischen Geschichte müssen darin reflektiert sein. Gleichzeitig beobachten wir, wie dieselbe messianische Orientierung, die den Kommunismus als das Endstadium der Menschheit proklamiert hat, nun von den Konservativen mit der Behauptung kopiert wird, die Geschichte ende mit dem Kapitalismus. Für die „postsozialistische“ Linke stellt sich daher die entscheidende Frage, wie die Kritik an einer Produktionsweise, die die Welt zerstört, in eine politische Strategie umgesetzt werden kann, die nicht mit der Angst spielt, sondern Phänomene beschreibt, um sie als Movens notwendiger Veränderungen zu benutzen. Dabei darf die Linke nicht in ihrer alten Position verharren, zu Demokratie und Menschenrechten ein bloß funktionales Verhältnis zu haben und als politische Avantgarde weiterhin den Anspruch zu vertreten, die objektiven Interessen der Menschheit artikulieren zu können. Allerdings wäre es ein großer Fehler, bei der radikalen Selbstkritik zu unterschlagen, daß wir das Projekt einer gleicheren und gerechteren Gesellschaft weiter aufrechterhalten. Die Fragen, die der Sozialismus an den Kapitalismus gestellt hat, bleiben offen. Die Antworten, die der Sozialismus gefunden hat, sind historisch obsolet. Das ist der Grund, warum die Vereinigung zur deutschen Republik in dieser Art und Weise stattfindet, und das kennzeichnet die Bedingungen der politischen Auseinandersetzungen in dieser historischen Phase.

Gekürzte und redigierte Fassung eines Vortrags vom 26.4.1990 an der Frankfurter Universität im Rahmen einer Veranstaltungsreihe „Zur Problematik der Wiedervereinigung“, den die Gruppe „Schöne Neue Welt“ mit Unterstützung des AStA organisiert.