Die Inszenierung der Einheit als Lehre der Vergangenheit

Es gab nur einen 1. Mai in Berlin, der die Genossen nicht entzweite - und das war 1946. Da hockten sie gemeinsam in den Kellern der zerbombten Häuser, warteten auf die Rote Armee, die sich Haus für Haus in die Innenstadt vorkämpfte. Statt Maienlieder dröhnten die Geschosse, pfiffen die Granaten und heulten die Stalinorgeln. Bis zur Kapitulation der Stadt am 2. Mai wurde in der Innenstadt noch gekämpft, während in den Außenbezirken die Elendskolonnen der Flüchtlinge gen Westen zogen. Der 1.Mai war ein wunderschöner, sonniger Tag, aber über der Stadt lag der Geruch von Brand und Verwesung.

Ein Jahr später hätte es viel Grund zum Feiern gegeben. Die Stadt war immer noch ein Trümmerfeld, aber sie war frei, und es herrschte Aufbruchstimmung: Nie wieder Krieg. Es gab auch eine große Feier. Fast 500.000 Berliner zogen in den Lustgarten. Die Menschen waren festlich gekleidet, die Frauen trugen Blumen in den Haaren, die vom Steine klopfen rissigen Hände wurden in Handschuhen versteckt. Aber schon diese erste Maifeier nach zwölf Jahren Nazidiktatur war überschattet von Bitterkeit und Auseinandersetzungen über den richtigen Weg hin zu Demokratie und Sozialismus.

Die im Sowjetsektor beschlossene Ehe von KPD und SPD zur SED war erst wenige Tage alt, und die Zwangsvereinigung erregte die Gemüter in den Westzonen. Auf der Kundgebung sprachen nur Vertreter der SED, die ursprünglich vorgesehenen SPD-Repräsentanten waren vom Maikomitee der Gewerkschaft ausgeladen worden. So war diese Maifeier der befreiten Arbeiterbewegung weniger ein Volksfest, eine Manifestation des Friedens, als die imposante Inszenierung einer „Einheit“, die es nicht mehr gab, die es aber als Lehre der Vergangenheit noch zu beschwören galt.

Ein Jahr später, 1947, gab es in Berlin immer noch einen Dachverband für Ost und West, aber faktisch war der FDGB schon zu einer Parteigewerkschaft verkommen. Die Maiveranstaltung, wie ein Jahr zuvor und bis 1989 immer im Lustgarten, war daher ein Zwitter. Auf dem Papier war es eine machtvolle Demonstration der geeinten Arbeiterschaft aller Sektoren, in Wirklichkeit aber ein Bekenntnis von FDGB und SED zur sowjetischen Variante des Sozialismus. Rund 300.000 defilierten in geschlossenen Zügen an der Ehrentribüne vorbei, Abordnungen der studentischen Jugend forderten „Betriebspatenschaften für Arbeiterstudenten“.

Spaltung unvermeidbar

Die Auseinandersetzungen im FDGB, die im Mai noch latent gewesen waren, brachen Wochen später offen aus. In den Westsektoren formierte sich mit starkem Rückenwind der SPD eine „Unabhängige Gewerkschaftsopposition“, die bei den nächsten Betriebsratswahlen große Erfolge einheimste. Die Spaltung des FDGB war vorauszusehen, die Differenzen zwischen Ost und West waren nicht mehr zu kitten. Die UGO, deren Zeitungen über den amerikanische Gewerkschaftsdachverband AFL vom CIA mitfinanziert waren, verschrieb sich mit Haut und Haaren der Propagierung des Marschall-Planes und der Währungsreform. Die Gewerkschaftsarbeit des FDGB wurde von der Sowjetkommandatur bestimmt.

Ganz Berlin war im Frühjahr 1948 im Aufruhr, denn die sowjetische Antwort auf die „Amerikanisierung“ der drei Westsektoren war die Abschnürung Berlins von den westlichen Zufahrtsstraßen und Eisenbahnlinien. Die Blockade war noch nicht total, aber Angst und ungeheure Verbitterung herrschten in der Stadt.

Es war daher nur folgerichtig, daß die Auseinandersetzungen über die politische und wirtschaftliche Zukunft Deutschlands nicht mehr durch eine gemeinsame Gewerkschaftsdemonstration im Lustgarten verwischt wurden. Der 1.Mai 1948 wurde zum erstenmal in Ost-und West-Berlin getrennt gefeiert. Wenn die Berliner Maifeier nun in diesem Jahr zum erstenmal nach 42 Jahren wieder gemeinsam stattfindet, ist für die Gewerkschaften daher auch ein Stück Nachkriegsgeschichte abgeschlossen.

Im Westteil der Stadt, auf dem Platz der Republik, veranstalteten die UGO und die SPD 1948 eine mächtige „Freiheitskundgebung“, riesige Transparente wehten vor der Ruine des Reichstags, „Freiheit und Brot“ hieß die Devise. In den Reden, die über Rias in die Welt tönten, wurde an das Gewissen der „freien Nationen! appelliert. „In Berlin wird der Kampf gegen die Diktatur ausgefochten. Helft uns im Ringen um unsere Existenz. Berlin darf nicht Hauptstadt der Ostzone, es muß deutsche Hauptstadt werden.“ Zum erstenmal (und ab dann bis in die frühen sechziger Jahre) sprach auch ein Vertreter der amerikanischen Gewerkschaften. Henry Rutz vom AFL beruhigte die Berliner, die sich schon in den Osten einverleibt sahen. „Berlin ist keine isolierte Insel. Unsere Verbindungslinien werden offen gehalten, und unsere Truppen bleiben in Berlin, bis die Stadt von allen Besatzungsmächten geräumt ist und die Stadt den Deutschen übergeben wird.“

Im Lustgarten fand derweil eine Maifeier nach Moskauer Vorbild statt. Hunderttausende, eingeteilt in Betriebs- und Wohngebietsgruppen, Kampfgruppen und Einheiten der Nationalen Volksarmee marschierten an der Ehrentribüne vorbei. Die Maireden waren eine Hymne an die Sowjetunion („aus dem Osten kommt das Licht“) und scharfe Polemik gegen die SPD und Kurt Schuhmacher. Dieser wurde als „Kriegshetzer“ bezeichnet, der in würdiger Nachfolge von Goebbels stehe.

Wenige Tage später war die Blockade der Stadt total. Berlin war vom Westen völlig abgeriegelt, und die Alliierten machten ihre Versprechungen wahr. Die „Luftbrücke“ wurde eingerichtet. Sie endete am 5. Mai 1949. Die Maifeier 1949 fand am 311. Tag der Blockade statt. Die Reden von Otto Suhr und Henry Rutz wurden überdröhnt vom Brummen der einfliegenden „Rosinenbomber“. Die Luftbrücke war für die Berliner zum technischen Garanten des Begriffs Freiheit geworden. Im Osten der Stadt demonstrierten erstmals Volkspolizisten mit Karabinern für den Weltfrieden. Den Lustgarten zierten gewaltige Bilder von Lenin und Stalin.

Die als Maifeste verkleideten Freiheitskundgebungen vor dem Reichstag im Westteil der Stadt fanden bis 1969 statt, hatten aber schon längst ihren ursprünglichen Sinn verloren. Während der Studentenbewegung und mit Beginn der neuen Ostpolitik, wurde nicht mehr die Freiheit von den Sowjets, sondern die innere Freiheit der Stadt beschworen. Die Gewerkschaften, von der neuen Opposition als „Arbeiterverräter“ entlarvt, zogen sich aus Angst vor der Straße in geschlossene Säle zurück. Erst 1978 kehrte der DGB auf die Straße zurück, die über Jahre hinweg am 1. Mai von der radikalen Linken dominiert worden war.

Anita Kugler MILITAERKAPELLE

Stets der gute Ton zum bösen Spiel - Ost-Berlin, 1. Mai 1988

Foto: Christoph Busch