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Einheit und Bratwurst zum 1. Mai

Wenig Kampfesstimmung bei der 1.-Mai-Feier der Gewerkschaften / Knapp 50.000 Menschen kamen zum Berliner Reichstag / FDGB sollte nicht reden / DGB-Chef Breit will Einheit der Gewerkschaften vor der deutschen Einheit / „Revolutionäre“ Demo blieb friedlich  ■  Aus Berlin Anita Kugler

Der 1.Mai in Berlin hätte ein wunderschönes Volksfest werden können, die Voraussetzungen waren da, die Sonne brannte heiß. Zum erstenmal seit 1947 hatten die Einzelgewerkschaften beider Stadthälften wieder zu einer gemeinsamen Maidemonstration aufgerufen, der kalte Krieg, die Mauern auf der Straße und in den Köpfen sind vorüber. Man hätte das Ende der Nachkriegszeit feiern können, das Ende der verordneten Aufmärsche von Betriebszellen, Kadergruppen, Kampfgruppen, Parteiuntergliederungen vorbei an der müde winkenden Führung des Landes.

Aber statt der vom FDGB erwarteten 100.000 versammelten sich im Lustgarten, dem Gewerkschaftstreffpunkt der Hauptstadt der DDR, höchstens 3.000 Werktätige. Gekommen waren in erster Linie die, die vor internationalen Fernsehkameras ihren Widerstand gegen einen „kalten Anschluß“ zeigen wollten. Ein Demonstrant hielt ein Plakat hoch: „Hitler stahl mir meine Kindheit, Stalin/Ulbricht meine Jugend, Honecker meine besten Jahre - Kohl den Rest.“

Die SPD-Ost, nur wenige hundert, marschierte aus Protest vor der verabredeten Zeit los; es blieb Gregor Gysi von der PDS überlassen, die GenossInnen aufzufordern, sich doch schnell dem abziehenden Zug gen Brandenburger Tor anzuschließen. Bis dahin hatte sich der Zug vermehrt, 15.000 drängten sich unkontrolliert in den Westen, die Grenzer hatten Nelken im Knopfloch.

Vor dem Reichstag, dem Platz auf dem bis 1969 die großen Freiheitskundgebungen zelebriert wurden, trafen sich die Züge aus Ost und West. Immerhin, so um die 50.000 werden es gewesen sein, die sich dort tummelten. Es herrschte eher Biergartenstimmung, die Westberliner Gewerkschaften hatten wie eh und je ihre Informationsstände aufgebaut, Kleinhändler verkauften Getränke, Kebab und Bratwürste. Die Redezeit wurde paritätisch zwischen Ost- und West -Gewerkschaftern aufgeteilt. Hauptredner war der DGB -Vorsitzende Ernst Breit, das Maikomitee des gemeinsamen Berliner gewerkschaftlichen Regionalausschusses hatte im Vorfeld einstimmig vorgeschlagen, keinen FDGB-Redner zuzulassen. Mißtöne wollte man vermeiden.

Ernst Breit verkündete die eigentliche Neuigkeit des Tages. Der DGB will noch vor der staatlichen Vereinigung Deutschlands die Einigung der Gewerkschaften in der Bundesrepublik und der DDR erreichen. Ansonsten wurde gewarnt: die Gefahr eines Niedriglohnlandes DDR beschworen, das die Unternehmer auch für einen Sozialabbau im Westen nutzen könnten.

Anschließend wurde gefeiert. Die Prachtstraße Unter den Linden war seit Sonntag von fliegenden Händlern zur Billigeinkaufsstraße mit gesalzenen Westpreisen umgestaltet worden, mit Kebab und Bratwürsten. Dahin zog es die Massen.

An der „Revolutionären 1.-Mai-Demonstration“ im Berliner Stadtteil Kreuzberg nahmen am Mittag nach Polizeiangaben etwa 9.000 Menschen teil. Die VeranstalterInnen sprachen von 12- bis 15.000 TeilnehmerInnen. Zur befürchteten Randale kam es trotz aller Unkenrufe bis Redaktionsschluß der taz jedoch nicht. Am Abend sollte das nicht genehmigte Maifest auf dem „Görlitzer Bahnhof“ stattfinden.

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