Mit Marxismus-Leninismus-Diplom zum Wandertag

Die Rentnerpartei PDS setzt auf Parlamentarismus und sozialdemokratische Gepflogenheiten des Parteilebens / Während die Alten auf Direktiven warten, begehren die Jungen schüchtern auf / Was hält die Partei zusammen, außer Gysi? / Beobachtungen aus dem Erzgebirge  ■  Von Petra Bornhöft

Karl-Marx-Stadt (taz) - Das ketchup-beladene „Zigeuner -Toast“ vor Gregor Gysi erkaltet. Ungerührt schieben Genossen dem PDS-Champion in der Kantine Fotos neben den Teller. Signieren des eigenen Konterfeis für den „Soli -Verkauf“. Da drängelt sich eine junge Frau vor. Mit beiden Händen drückt die Karl-Marx-Städterin ihr Plüschtier, eine weiße Mischung aus Hund und Bär. „Lieber Gregor, das war ein Leben lang mein Maskottchen“, ihre Stimme kämpft mit einem Kloß im Hals, „jetzt soll es Dir Glück bringen. Vielen Dank für alles und halte durch.“

Mit Umarmung und Bernhardiner-Blick bedankt sich Gysi für das neueste Exemplar seiner von Auftritt zu Auftritt wachsenden Knuddelwesensammlung. Kurz darauf - stehende Ovationen der rund 200 handverlesenen Gäste des „PDS -Frühlingsfestes“. Sobald der Parteichef den Mund aufmacht, notieren dutzende Kugelschreiber möglichst viele der schönen Merksätze. Dazu entschlüpft dem eloquenten, obersten Erneuerer kein Wort, obwohl das devote Verhalten auf jeder Parteiversammlung ein sichtbarer Beweis für die anhaltende Erstarrung der PDS ist.

Nur einzelne Parteiaktivisten fürchten mittlerweile: „Die Erneuerung ist gestoppt, der Apparat hat wieder die Oberhand“. Wer ist das, „der Apparat“ für gerade noch 310.000 Mitglieder, von denen die Hälfte schon das Rentenalter überschritten haben?

Gysi weiß es nicht. Seine Leidenschaft für jenes Gebilde, das zwischen Alten und Jungen, zwischen Reformern und Traditionalisten hängt, ist nach eigenem Bekunden wenig ausgeprägt. Die Kenntnisse derart bescheiden, daß er auf die Frage nach der „Kommission Organisation und Parteileben“ mehrfach ahnungslos entgegnet: „Die gibt es nicht.“ Es gibt sie, in der Zentrale, bei den Bezirks- und Kreisvorständen. Doch Gysi scheint zufrieden, daß der Parteiapparat immerhin- von 40.000 auf 2.000 Personen abgespeckt wurde. So zielt denn auch die einzig laute Kritik am PDS-Chef gegen dessen „mangelndes Verständnis für den Apparat“. Aufsteiger und Einsteiger

Der das wie aus der Pistole geschossen sagt, ist ein Apparatschik: Dr. Norbert Kertscher (36), gelernter Parteiarbeiter und Ökonom, Bezirksvorsitzender in Karl-Marx -Stadt und Volkskammerabgeordneter in Berlin. Faul war er nie, der ehemalige Agit-Prop-Sekretär, der eine Schwäche für Kernsätze besitzt: „Man mußte kein Schwein sein, konnte in der SED Mensch bleiben.“ Früher mußte er bis in die Nacht hinein für seinen Chef, den „Ersten Bezirkssekretär“, Reden umschreiben, wurde von dem „nach oben gelobt“ und stieg im November 1989 selber zum „Ersten“ im Bezirk auf. Seither hat Norbert Kertscher 30.000 Straßenkilometer mit Fahrer und Aktenkoffer bewältigt. Der neue Job „hat wenig mit Karriere zu tun, erfordert Einsatz und Beharrungsvermögen“. Daß er zu den sieben von 14 Bezirkschefs gehörte, die die SED vor Jahreswende noch auflösen wollten, erzählt Kertscher nicht. Stattdessen viel über die gestiegene Arbeitsintensität seines 14-Stunden-Tages: „Früher wurde final verhandelt, heute diskutieren wir wirklich, müssen Kritik nicht mehr anmahnen. Dabei gibt es keine Tabus.“ Sagt er. Der Beweis folgt auf dem Fuße: eine „spontane“ Reise mit dem Gast zu Kreisvorständen im Erzgebirge.

Die Genossen aus Freiberg - einer bergbaugeschädigten 50.000-Einwohner-Stadt zwischen Dresden und Karl-Marx-Stadt

-stellt Norbert Kertscher als „Einsteiger mit kontroversen Ansichten“ vor. Einsteiger Dietrich Bicher (36), früherer Mathematiker, seit 17 Jahren Parteimitglied und wenigen Monaten Funktionär, erläutert eine aktuelle Kontroverse: „Steinharte Stalinisten haben wir vor der Umschreibung in die neuen Mitgliedslisten ausgegrenzt“. Dies soll nicht nur auf Gysis Mißfallen gestoßen sein. Auch Kertscher hält die „inquisitorische Ausgrenzung“ für einen Rückfall in die Intoleranz der SED. „Wer ist denn ein Stalinist? Das ist ein Modebegriff geworden“, wirft er in die Runde.

Wieviele Freiberger „Stalinisten“ auf den Nachbarort ausweichen mußten, bleibt unklar. Von ehemals 9.500 Mitgliedern im vergangenen Oktober erklärten sich 1.100 schriftlich zur „aktiven Mitarbeit“ bereit, darunter fast die Hälfte RentnerInnen. Vor allem der Mittelbau, die 30 -50jährigen haben die Partei verlassen - aus Enttäuschung oder wegen beruflicher Ambitionen. Daß die treuen Alten mehrheitlich ein Problem für die PDS darstellen, hört Kertscher ungern. Doch Gysi entfährt schon mal ein Stoßseufzer: „Auf diesen Versammlungen mit einem Durchschnittsalter von 77 Jahren und jeder Menge Idealen kannst du einen duftenden Erneuerungsvortrag halten. Aber damit reißt Du nix mehr.“ Einen derartigen Ausbruch würde Norbert Kertscher sich trotz scharfer Beobachtungsgabe und Vorliebe für Ironie nicht gestatten. Mit sanfter Stimme mahnt er seine Genossen, „die Erfahrungen der Alten brauchen wir. Sie kennen Parteiarbeit ohne Betriebszellen, haben viel Zeit für organisatorische Aufgaben und sind oft im Wohngebiet anerkannt.“ Da nicken die Freiberger Funktionäre. Man ist sich einig, auch wenn leise nachgesetzt wird, es sei zu bezweifeln, ob die „Erfahrungsträger wirklich verstanden haben, was sich in Republik und Partei alles geändert hat“. Wie sollte das möglich sein?

„Erfahrungsträger“

Die Antwort auf diese Frage, empfiehlt Norbert Kertscher wohl nicht ganz ohne Hintergedanken, könnte am besten Professor Hans Lauter geben. Als einer der wenigen Aktiven seiner Generation gilt der 78jährige Hochschullehrer als „lebendiger Beweis für die antifaschistische Wurzel der Partei“ (Gysi-Merksatz). In der Tat, im musealen „Traditionszimmer“ des „Komitees der antifaschistischen Kämpfer“ holt dessen Vorsitzender Lauter „Beweise“ aus der Tasche: die Weimarer Verfassung, seinen Haftbefehl von 1935 und das über zehn Jahre geführte Mathematik-Heft aus dem Zuchthaus und KZ. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Leben des Kommunisten ein „untypisch gutes Verhältnis zu Sozialdemokraten“: vom Chemnitzer Arbeitersportverein, über die Freundschaft mit Fritz Erler in der emsländischen KZ -Baracke, die SPD-Ehefrau, Vereinigung von KPD und SPD bis hin zu Lauters Vorschlag nach der Wende in der DDR, den örtlichen Sozialdemokraten „umgehend ihr altes Gebäude zurückzugeben“.

Bei Stichworten wie Bolschewisierung und Sozialfaschismustheorie der Weimarer KPD allerdings runzelt der Weißhaarige die Stirn, blättert in der Dokumentenmappe und zeigt die Kopie des SPD-Flugblattes: „Wer Thälmann wählt, wählt Hitler“. Das Flugblatt, Lauter erinnert sich genau, „war rot“. Über die Zeit nach dem SED-Ausschluß 1953 und anschließender Wiederaufnahme erzählt Lauter nicht annähernd so detailliert. Jetzt ist er wieder voll in die Politik eingestiegen. „Denn Leute wie Norbert Kertscher kennen ja nicht das demokratische Parteileben, das es vor 1933 in der SPD und auch der KPD gegeben hat.“ Und den ganz Jungen fehle die „Erfahrung in der richtigen, langfristigen Arbeit, „mit der wir wieder Vertrauen und Stimmen gewinnen, wie damals in Weimar“.

Die Fixierierung vieler alter Genossen auf die 20er Jahre, bringt jüngere PDS-Aktivisten aus der Zentrale zur Verzweiflung. „Tausende blicken schwärmerisch nach hinten und träumen von den vier Millionen KPD-Stimmen vor '33“, stöhnt eine Berliner Aktivistin, „während die Funktionäre sich für erneuert halten und doch aus den 40 Jahren DDR nicht rauskommen.“ Zumindest können die Letztgenannten sich nur schwer von gewohnten Symbolen für ihre „Ideale“ trennen.

Mit der PDS zum Wandertag

Achtlos eilt Norbert Kertscher an der geballten Ladung Reliquien im Parteigebäude Brand-Erbisdorf vorbei. „Soldat sein für die schönste Sache der Welt“ prangt in Riesenlettern neben den lebensgroßen NVA-Kommißköppen im früheren „Militärpolitischen Kabinett“ der Armee. Lenin als Büste, Lenin als Wandteppich, Marx, Engels und Lenin als Silberteller. Im Laufschritt eilt der rundliche Kreisvorsitzende Bernd Ebert (49) herbei, ratscht den Reißverschluß der Strickjacke hoch und strahlt: „Wie schön, daß Du mal da bist, Norbert.“ Der scheint nicht häufig die Parteibasis zu konsultieren. Jedenfalls hat er die exquisite Reliquie im Büro des lokalen Parteichefs vorher nie bemerkt: ein Miniaturamboß mit der eingestanzten Ziffer „1“. Zögernd, dann heftig lachend reicht der neue Besitzer das Statussymbol herum: „Das war eine Idee des ehemaligen Ersten für die klare Rangfolge“. Welche Ziffer der frühere Landwirtschaftssekretär Ebert hatte, wird nicht verraten. Der entschwundenen Nr. 1, die Agit-Prop-Sekretär Kertscher in einen anderen Kreis zum „Ersten“ hochlobte, trauern die Hinterbliebenen nicht nach. Doch beim Blick auf das Gruppenfoto der alten, mehrheitlich ausgetretenen Kreisleitung packt die Erneuerer ein Anflug von Schwermut. „Was haben wir bloß falsch gemacht“, murmelt Ebert und hebt den Kopf zur Decke. Schweigend nickt Kertscher.

Welch „blöde Hunde wir waren“, ist Ebert kürzlich durch den Kopf geschossen. Am Runden Tisch hatte er gemeinsam mit dem Pfarrer und gestützt auf Bibelkenntnisse - „die hat man als ML-Lehrer mit Diplom“ - vergeblich gegen die Auflösung des Gremiums gestritten. Danach habe er gebeten, „Herr Pfarrer zeigen Sie mir mal Ihre Kirche“. Kertscher lacht. „Als wir, der Parteifürst und der Kirchenfürst, dann durch den Kirchgarten lustwandelten, da hab ich zu ihm gesagt: 'Herr Pfarrer, hätten wir mal zusammengehalten, dann hätten wir eine bessere DDR gemacht‘.“

Tief sitzt die Trauer derjenigen, die stets das Beste gewollt haben. Und der Dank? - Bernd Eberts „zwei Wünsche im Parteileben“ - Besuch der Parteihochschule und einen Parteitag erleben dürfen - haben sich erfüllt. Doch das offiziell ausgezeichnete „sozialistische Dorf Burgdorf“ ist „parteifrei“, in elf von 25 Gemeinden und Städten des Kreises fand sich kein PDS-Kandidat für die Kommunalwahlen.

Trost verspricht die Aktion am 1.Mai. Am hundertjährigen internationalen Kampftag der Arbeiterklasse veranstaltet die PDS Brand-Erbisdorf einen Wandertag „für die ganze Familie und mit Bratwurstessen. 120 haben sich schon angemeldet“. Sichtlich erfreut über diese Idee fügt Kertscher hinzu: „Wir orientieren uns an sozialdemokratischen Gepflogenheiten des Parteilebens.“ Die waren schon immer herzlich, zuweilen spießig-kleinbürgerlich - aber die revolutionären SED -Arbeiter haben ohnehin zu 75 Prozent die Partei verlassen. Und die beliebten Weihnachtsengel, weltberühmte Kleinode erzgebirgischer Schnitzkunst, heißen seit der Wende auch nicht mehr „Jahresendlichterflügelpuppen“.

Ausflüge, Tanzfeste mit der Wahl einer Miß PDS, Jugend -Disco, Talk-Shows oder Politfrühschoppen für die ganze Familie - so etwas schweißt zusammen und steht laut Kertscher „für die neue Vielfalt unserer Parteiarbeit“.

„Was hält die PDS zusammen, außer Gysi?“

So „vielfältig“ die Liste der Veranstaltungsformen klingt, keine Stadt, in der die Funktionäre nicht den Genossen Gysi oder Kertscher nicht ihr Leid klagen über mangelnde Aktivitäten der Mitglieder oder das „Warten der Alten auf Direktiven“. Manchmal klingt es, als warteten sie selber auf „Anleitung“ aus der Zentrale. Dann beruhigt man sich in Zwickau und anderswo mit dem „Schönsten, was die Partei hat“, den unter 25jährigen. Republikweit bilden die „Hoffnungsträger“ knapp zehn Prozent der Mitgliedschaft. Beim „PDS-Frühlingsfest“ in Karl-Marx-Stadt moderieren zwei junge Redakteure der bezirklichen PDS-Wochenzeitung 'Die Neue‘ die Fragestunde mit Gysi. Am folgenden Tag ärgert sich Viktoria (Vicky) Kaina (20), daß sie die „vorher überlegten scharfen Fragen nicht gestellt“ hat.

Zum Beispiel, warum Gysi seine Referate im 'ND‘ abdrucken läßt, oder warum nie darüber geredet wird, daß die Partei nur an Wahlen denkt („wenn wir in Gesamtdeutschland nicht die Fünf-Prozent-Klausel schaffen, ist's aus mit dem Parlamentarismus“), oder ob der Erneuerungsprozeß etwa gestoppt ist, weil „der Apparat sich nur mit sich selbst beschäftigt“. Vicky Kaina traute sich genauso wenig wie jener junge Genosse, der die Kultfigur Gysi zu gern gefragt hätte, „was die Partei zusammenhält, außer Gregor Gysi“. Hätten sie so interviewt, „wären wir gelyncht worden“. Die Leute gingen nur auf Veranstaltungen, „um sich von Gregor Gysi bestätigen zu lassen, daß sie richtig gedacht haben“.

Eine Vermutung, die der Wirklichkeit sehr nahe kommen und dem klugen Häuptling nicht verborgen bleiben dürfte. Doch er leckt verständnisvoll und ausgiebig die Wunden, wenn auf den Versammlungen regelmäßig die „Kriminalisierung der PDS“, der Goebbels-Vergleich des DSU-Hetzers Nowack oder andere Gemeinheiten vergleichbarer Dummbeutel zur Sprache kommen.

An veranstaltungsfreien Abenden säubert die junge Frau sie ging 1988 in die SED „wegen meines in der Kindheit geprägten Gerechtigkeitsempfindens“ - mit Genossen ihrer Basisgruppe Bushaltestellen von alten PDS-Plakaten, bereitet ein Kinderfest vor oder macht sich Gedanken, „wie in unserem jungen Wohngebiet die Schlammwüsten beseitigt und ordentliche Parkplätze angelegt werden können“.

Tagsüber rackert die Aktivistin seit März bei der 'Neuen‘. An der neuesten Ausgabe gilt eine anonym gehaltene Kritik an den „Profis“ im Bezirks- und Kreisapparat als „sensationell“. Die Redaktion erfahre nichts und scheitere bei kurzfristigen Termingesuchen schon an der „Bastion Sekretärin“ in den Vorzimmern der Präsidiumsmitglieder. Wer es wissen will, erfährt im 270 Kilometer entfernten Berlin, daß es leichter sein soll, mit Gysi zu reden als mit Norbert Kertsche, dessen Büro dreißig Schritte von den Zeitungsräumen trennen. Das Aufbegehren der 'Neuen‘ füllt eine Spalte. Danach seitenweise Ergüsse der Kreisvorstände.

Warum stößt die stets freundlich empfangenen Fremde in jedem Büro auf den Satz: „Gregor Gysi hat gesagt...“, nirgends auf lebendigen, politischen Streit der Genossen, obgleich niemand versäumt, den „Mangel an politischer Selbstverständigung“ zu beklagen. Wie soll diese tiefste, vierzig Jahre verklebte Wunde der Partei geheilt werden? Die Masse scheint an Wunderdoktor Gysi zu glauben, der einen Erneuerungskongreß für dringend geboten hält. Echter Balsam für die Seele der Apparatschiks ist seine Ankündigung, Hans Modrow werde sich künftig „verstärkt in die innere Arbeit des Apparates einmischen“. Das zaubert ein Lächeln in die müden Gesichter. Hans ist einer der Ihren - gelernt und zuverlässig. Ihm haftet eine Eigenschaft an, deren Fehlen nach Ansicht eines langgedienten Funktionärs Gysis Erfolg begründet: „Niemand, der aus dem Apparat kommt, und nicht immer in dessen Denken verwurzelt bleibt.“ Der alte Apparat hat - wie jede Bürokratie - in erster Linie an sich gedacht. Norbert Kertscher und andere Apparatschiks seufzen, daß „wohl nur gelernte DDR-Bürger und Parteiarbeiter den Aufbruch und das Neue verstehen“.