Spätes Urteil

■ 22 Jahre Gefängnis für den Gründer von „Lotta Continua“

Italiens bleierne Jahre sind vorüber, vorbei die Zeiten, in denen fast wöchentlich ein Politiker, Richter oder Manager den Kugeln linker Kommandos zum Opfer fiel und in denen man aufgrund dubioser Zeugenaussagen oder eines Flugblattes für einige Jahre im Knast verschwinden konnte, vorbei die Träume und vorbei die Hysterie. Insofern scheint die Verurteilung des Gründers der linksradikalen Gruppe Lotta Continua, Adriano Sofri, und von zwei weiteren Genossen zu je 22 Jahren Gefängnis wegen Mordes einer längst verflossenen Zeit zu entstammen.

Noch ist die Begründung des Urteils nicht bekannt. Sicher ist nur, daß die Geschworenen dem Kronzeugen, der sich selbst zum Mord an Polizeikommissar Calabresi bekannt und Sofri als Auftraggeber denunziert hat, Glauben schenkten. Aber was heißt schon Auftraggeber? Massengewalt, bewaffneter Kampf, Volkskrieg, solche Worte gingen in Italien 1972, als Calabresi ermordet wurde, Hunderttausenden mühelos über die Lippen, lange bevor die Roten Brigaden und Prima Linea den Worten Taten folgen ließen. Der Mord am verhaßten Polizeikommissar, der der Ermordung eines anarchistischen Eisenbahners bezichtigt war, wurde damals in breiten Teilen der Linken offen und öffentlich begrüßt. Auch von Sofri und Genossen. Eines Auftrags bedurfte es in der aufgeputschten Stimmung nicht, es genügte eine Waffe, ein bißchen Logistik und Mut. Der Applaus war sicher.

Sofri gehört zu denjenigen, die sich am radikalsten mit dieser Vergangenheit auseinandergesetzt haben, ohne sie je zu verleugnen. Er hat seinen Teil moralischer Schuld akzeptiert. Und genau das hat er immer wieder auch vom Staat und seinen öffentlichen Repräsentanten verlangt. Immerhin waren Generäle, Spitzenpolitiker, ja sogar Minister in geheimdienstlich gesteuerte rechtsradikale Massaker verwickelt, die über hundert Tote kosteten und für die bis heute niemand - weder Täter noch Auftraggeber rechtskräftig büßt. Die Verstrickung staatlicher Apparate in den rechtsextremen Terror, der dem linksextremen voranging, hat sicher dazu beigetragen, daß in Italien, anders als hierzulande, eine breite öffentliche Debatte über eine Amnestierung der politischen Gefangenen möglich wurde. Eine Debatte, die vor zwei Jahren unter den Schüssen neuer Attentate begraben wurde. Die Hardliner der italienischen Politik haben dies mit Genugtuung vermerkt. Sofri verzichtet auf eine Berufung gegen das Urteil - vermutlich, um die Diskussion über eine Amnestie neu zu beleben und sie nicht nach einem zweiten oder gar dritten Urteil in zehn Jahren, sondern jetzt zu führen.

Thomas Schmid