Warnstreiks in der Schuhindustrie

■ In Berlin tagte die Gewerkschaft Textil-Bekleidung-Leder / Verkaufsorganisationen kündigten die Abnahmeverträge

Berlin (taz) - Am vergangenen Wochenende tagte zum erstenmal seit der Wende die Zentraldelegiertenkonferenz der Industriegewerkschaft Textil-Bekleidung-Leder. Die Gewerkschaft vertritt rund 540.000 Mitglieder, die meisten von ihnen leben und arbeiten im südlichen Sachsen und Thüringen. Das Hauptanliegen der 300 Delegierten - mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen - war die Wahl eines kompletten neuen Vorstandes. Der alte Vorstand kandidierte vorsichtshalber schon gar nicht mehr.

Der neue demokratisch gewählte Vorstand wird viel zu tun haben, die Delegierten verabschiedeten ein ganzes Paket von programmatischen Empfehlungen, denn die Textil- und Lederbranche steckt bis zum Hals in Schwierigkeiten. Die geplante Vereinigung mit den beiden westdeutschen Schwestergewerkschaften, Gewerkschaft Textil und Bekleidung und Gewerkschaft Leder, nimmt sich da noch vergleichsweise harmlos aus.

Das Hauptproblem der Branche ist die zu erwartende Arbeitslosigkeit. Die ehemals staatlichen Handelsorganisationen haben schon vor Monaten ihre Abnahmeverträge gekündigt, die Bekleidungskombinate und die Schuhfabriken arbeiten auf Halde.

Die Warenlager quellen über, denn in den Kaufhallen und Einzelhandelsgeschäften wird nur noch Westware verlangt. Die Wirtschafts- und Währungsunion mit der BRD wird der notleidenden Branche den Rest geben, wenn nicht, wie von der Gewerkschaft gefordert, staatliche Schutzzölle und Übergangssubventionen den Weg in die freie Marktwirtschaft abfedern.

Vergangene Woche haben Zigtausende von Werktätigen der Schuh- und Lederindustrie mit landesweiten Warnstreiks auf ihre desolate Situation aufmerksam gemacht. Beispielhaft ist das Schicksal der Schuhfabrik „Paul Schäfer“ in Erfurt. Täglich werden hier 24.000 Paar Schuhe hergestellt, und täglich wächst die Halde um die gleiche Menge.

Die Abnehmer haben für das zweite Quartal eine halbe Million Paar storniert. Spätestens im Juni sind die 4.000 Erfurter Schuhmacher arbeitslos. Eine Zusicherung, daß die Löhne weiterbezahlt werden, gibt es nicht, und westliche Kaufinteressenten haben sich noch nicht gemeldet.

Die halbstündigen Warnstreiks waren nur der Auftakt zu kommenden Aktionen. Heute wollen die Gewerkschafter vor dem Amtssitz des Ministerrates protestieren. Eine Resolution an den Ministerpräsidenten wird übergeben, eine Tagesproduktion von Schuhen vor dem Gebäude ausgekippt werden.

Anita Kugler