Wie soll man dieses Volk ändern?

■ Der Todesmarsch, die Lagerbefreiung und die Klaviersonate: Karl Amadeus Hartmanns Komposition „27. April 1945“

Olaf Cless

Das ganze Lager war in Marschordnung vor den Blocks angetreten, und schon seit einer Stunde ergoß sich der Strom der blauweiß gestreiften Gefangenen aus dem offenen Tor in den ungewissen Ausgang dieses wahnsinnigen Evakuierungsbefehls. (...) Der Hof war erfüllt von dem Brausen murmelnder Männerstimmen, untermalt vom Klappern der Holzpantinen.“ So schildert Isa Vermehren, Überlebende dreier Konzentrationslager, die Nacht vom 26. auf 27. den April 1945 in Dachau. Die amerkianische Front rückte immer näher, die SS begann das Lager zu evakuieren.

In der darauffolgenden Nacht werden der Komponist Karl Amadeus Hartmann und seine Frau Elisabeth - sie leben zurückgezogen in Kempfenhausen am Starnberger See - von merkwürdigen Geräuschen aufgschreckt. Sie schleichen zur Hecke ihres Grundstücks hinab und sehen, wie Tausende von Dachau-Häftlingen, getrieben von der SS, in Holzpantinen die Uferstraßen entlangziehen. Noch in derselben Nacht beginnt Hartmann eine Klaviersonate zu komponieren. Er nennt sie 27. April 1945 und fügt auf dem Deckblatt hinzu: „Am 27. und 28. April 1945 schleppte sich ein Menschenstrom von Dachauer 'Schutzhäftlingen‘ an uns vorüber - unendlich war der Strom - unendlich war das Elend - unendlich war das Leid -.“

Ins Zentrum des Werks stellt er einen Trauermarsch, basierend auf dem Arbeiterlied Brüder, zur Sonne, zur Freiheit. Es geht auf eine russische Volksweise zurück, die Worte schrieb, vor der Jahrhundertwende, ein junger Wissenschaftler namens Radin im zaristischen Gefängnis. 1918 brachte der Dirigent Hermann Scherchen das Lied aus der russischen Kriegsgefangenschaft mit und übertrug den Text ins Deutsche. Scherchen - und damit schließt sich der Kreis

-wurde seit den dreißiger Jahren ein guter Freund, Anreger und Förderer Hartmanns.

In der Sonate nun ist jenes Brüder, zur Sonne in Düsterkeit getaucht. Über einem verhangenen Baß-Ostinato erhebt sich müde und fahl die Melodie, durchkreuzt und verzerrt von einer Nebenstimme. Der „Zug von Millionen“, der „endlos aus Nächtigem quillt“, wie es im Lied heißt, er ist ein Zug Geschlagener, Gequälter, Ermordeter. Das Trauermarsch-Trio gipfelt in einem dreimaligen markerschütternden Wehgeschrei (Vortragsbezeichnung „Con passione!“) und sinkt dann ermattend, in einer humpelnden Bewegung, in die dritte und letzte Liedstrophe zurück. Die Coda löst alles in Erinnerung auf.

Karl Amadeus Hartmann, geboren 1905, hatte sich der tausendjährigen Herrschaft von Anfang an verweigert. Schon sein Orchesterstück Miserae widmete er „Meinen Freunden, die hundertfach sterben mußten, die für die Ewigkeit schlafen - wir vergessen euch nicht (Dachau, 1933 bis 1934)“. Unmißverständliche künsterische Bekenntnisse waren auch seine Simplicius Simplizissimus-Oper von 1934, seine Erste Symphonie nach Worten von Walt Whitman, sein Concerto funebre von 1939 mit dem Trauermarsch Unsterbliche Opfer oder seine Symphonie Klagegesang von 1944, die er seinem Freund, dem Widerstandskämpfer Robert Havemann, widmete. Hartmann lebte völlig isoliert vom Kulturbetrieb des Dritten Reiches, seine Werke wurden nur hin und wieder im Ausland aufgeführt, namentlich von Scherchen. Das vielstrapazierte Wort von der „inneren Emigration“ - auf Hartmann, der sich zudem zeitweise auch aktiv am Widerstand beteiligte, traf es wahrhaft zu. Seine Manuskripte ruhten zwei Meter tief unter der Erde, in einem Zinkbehälter in den Bergen.

Der erste Satz der Klaviersonate ist erfüllt von jüdisch anmutender Melodik. Anfangs eher meditativ, schweift sie immer unruhiger umher, steigert sich in erregte Angst. Da hebt eine ehrwürdige Stimme („Rezitativ!“ steht im Notentext) zu singen und zu trösten an.

Keine zwei Tage nach dem von Hartmann beobachteten Evakuierungszug von Häftlingen - und nach Beginn des Kompositionsprozesses - wurde Dachau befreit. Zwei Lagerhäftlinge, Nicolaus Hausner und Karl Riemer, hatten am 26.April bei einem Außenkommando fliehen und sich über vierzig Kilometer weit bis zur amerikanischen Front durchschlagen können. Riemer informierte den US -Kommandanten, daß sich in Dachau 32.000 KZ-Häftlinge in der Hand einer unberechenbaren, in der Stunde ihrer Niederlage zu allem fähigen SS befänden. Daraufhin setzte die US-Armee sofort eine Abteilung nach Dachau in Bewegung. Am Sonntag, den 29.April gegen Abend war das Lager befreit. Die diesen Tag erlebten - Menschen aus 27 Ländern - waren ebensoviele wie hier in den zwölf Jahren den Tod gefunden hatten. Beim Krematorium lag noch ein Berg von dreitausend Leichen, liegengeblieben wegen Brennstoffmangels.

Unter den Überlebenden war ein holländischer Rechtsanwalt mit Namen Floris B. Bakels. Anfang April war er aus einem anderen Lager nach Dachau eingewiesen worden. Er führte Tagebuch. Seine Notizen der letzten dramatischen Tage, als die Befreiung schon in der Luft lag, drücken Stimmungen und Gedanken aus, wie sie auch K. A. Hartmann um dieselbe Zeit, an einem Ort nicht weit von hier, unter demselben Grollen der Geschwader und Geschütze, dieselben Meldungen und Gerüchte auffangend, ebenfalls Befreiung herbeisehnend, beim Schreiben seiner Sonate bewegt haben mögen - und wie wir sie in seiner Musik zu hören meinen. Am 20.April notiert Bakels: „Das Frühjahr wird uns den glücklichsten Tag unseres Lebens bescheren“, und tags darauf: „Ich darf auf noch größere Genüsse hoffen, zusammen mit meiner Frau in einer Welt ohne Krieg.“ Unter dem 24. April heißt es: „Die Zeit ist so gewaltig, die Dinge sind von solch riesenhafter Bedeutung, die Zukunft ist so verwirrend, ich könnte ebensogut schreien wie lauthals lachen.“ Und einige Zeilen tiefer: „Gleich essen wir Trockengemüse. Ein freundlicher Russe aus Mariupol kocht es für uns“. Am 25., da sich die Anzeichen des baldigen deutschen Zusammenbruchs mehren: „April 1945, sollte das wirklich der Monat werden?“ Am 27. notiert Bakels: „Alles ist ein einziges Chaos (...) Man scheint doch einige tausend Juden evakuiert zu haben“ - eben jene, die Hartmann in der Nacht vorüberziehen sehen wird. Am 29. schreibt der Holländer: „Ja, es wird wohl der letzte Sonntag in Gefangenschaft sein. Ich wage es kaum niederzuschreiben. Die Sonne scheint. Eiskalte Füße.“ Schließlich Stunden später: „18Uhr. Die ersten Amerikaner. Tote SS. Tritt in den Hintern, entwaffnet, tot. Rote Fahnen. Andere Fahnen.“ Dazu trägt Bakels später in seinen Erinnerungen nach: „Am Jourhaus, dem Torbau, sah ich einen Häftling - jetzt kein Häftling mehr - auf halsbrecherische Weise hinaufklettern und dann eine feuerote Fahne am Mast befestigen.“

Auch Hartmann hißt, auf seine Weise, eine „feuerrote Fahne“. Er komponiert - inzwischen ist wohl Anfang Mai - als zweiten Satz seiner Sonate ein Scherzo, aus dessen rasanter Martellatobewegung hart der Refrain der Internationale hervorspringt. Er wird dann gegen Ende nochmals abschnittweise, in grellen Clusterakkorden von dreifachem Fortissimo („con fuoco e con passione“) ekstatisch deklamiert. Diesen Satz allerdings scheint der Komponist einige Zeit später wieder verworfen zu haben. Er fehlt in der Manuskriptfassung, die er 1948 dem Pianisten Bernhard Böttner gab. Dafür jedoch ist hier der Schlußsatz („Allegro risoluto“) neu gefaßt und wartet mit einer Paraphrase der Partisanen vom Amur auf, einem 1920 im russischen Bürgerkrieg entstandenen Lied. Sein erneuerter Sinn liegt in diesen Maitagen 1945 auf der Hand: „Durchs Gebirg, durch die Steppen zog/unsre kühne Division“, beginnt der Text; „Kampf und Ruhm und bittere Jahre“ besingt die dritte Strophe, und die letzte lautet: „Und so jagten wir das Pack zum Teufel/General und Ataman/Unser Feldzug fand sein Ende/erst am Stillen Ozean.“ Auch Hartmanns Musik prescht dahin, immer wieder blitzt die Partisanenmelodie auf. Noch einmal Innehalten, eine sanfte jüdische Kantilene. Dann wieder das Brausen. Am Ende steht die Apotheose des Partisanenthemas, gewaltig, streng, leidenschaftlich - seht nur, was dieses Volk auf sich genommen hat.

Die pianistisch-technisch enorm schwere Sonate wird 1946 im privaten Rahmen uraufgeführt (Solist ist Kurt Arnold). Danach gerät sie in Vergessenheit, besser gesagt: ins Klima der Vergeßlichkeit. Der Kalte Krieg beginnt, die Russen sind wieder oder immer noch der Feind, die „Grundtorheit der Epoche“, vom Stalinismus bestätigt und ihn wiederum bestätigend, wuchert weiter, die Scham darüber, was von deutschem Boden ausging, ist rasch vorbei, jetzt kommt der „Wiederaufbau“. „Leider muß man feststellen“, schreibt Hartmann Anfang 1947 an Scherchen, „daß der Nazigeist bei uns noch überall blüht. Die Naziideologie hat sich im deutschen Volk sehr tief hineingefressen (...) Geschimpft wird auf die Ausländer, die Juden und die Besatzungsmächte (...) Über Deutschland hängen schwarze Wolken; doch wie soll man dieses Volk ändern?“ Schlechte Zeiten auch für ein trauerndes und bekennendes Kunstwerk wie die Sonate 27. April 1945.

Bis in die achtziger Jahre blieb sie in der Verdrängung. In mancher Werkübersicht wurde sie glatt ignoriert. Doch die Sache ist komplizierter: Hartmann selbst wollte von seiner Sonate ab einer gewissen Zeit nichts mehr wissen. Um Aufführungsmöglichkeiten scheint er sich nicht bemüht zu haben, obwohl ihm dies als verantwortlicher Kopf der Münchner „Musica Viva“ - Konzertreihe und bei seinen hervorragenden Kontakten in die internationale Musikwelt nicht allzu schwer hätte fallen können. 1961 erklärte er sogar: „Leider habe ich meine beiden Klaviersonaten verbrannt, da ich nicht mehr zu ihnen stehen konnte.“ (Die erste Sonate gehört noch zu den vor 1933 entstandenen Werken, denen Hartmann insgesamt sehr kritisch gegenüberstand.)

Warum distanzierte sich Hartmann? Warum diese Wendung nicht nur im Fall der Sonate 27. April 1945, sondern ebenso seines Miserae, seines Chorwerkes Anno '48 Friede und weiterer zwischen 1933 und 1945 entstandener Schöpfungen?

Hartmann unterzog nach dem Krieg sein gesamtes bisheriges Schaffen einer äußerst selbstkritischen Revision. Viele Partien löste er aus ihrem alten zeitgeschichtlichen, thematischen Bezug heraus und überführte sie, zum Teil überarbeitet, in seine Symphonien, denen er sich nun vorrangig und systematisch widmete. Hartmann wollte nicht als Bekenntnismusiker in einem vordergründigen, kurzlebigen Sinne gelten, dessen Werke man vor allem ihrer respektablen antifaschistischen Entstehungsumstände und Haltung wegen achtet - er strebte, durchaus im Einklang mit seinem humanistischen Credo, nach größtmöglicher künstlerisch -geistiger Verallgemeinerung. Dabei befand er sich, was die öffentliche Rezeption betraf, unweigerlich in einer Art Zweifrontenkampf: „Den einen, die an Ideologien hängen“, so schrieb er später in seinem Aufsatz über Kunst und Politik, „imponiert eine Kunstäußerung grundsätzlich nur, wenn sie als politisches Manifest zu gebrauchen ist; die anderen, die l'art-pour-l'art-Leute, leugnen brüsk, daß Kunst überhaupt etwas mit Politik zu tun habe.“ Den letzteren nun mußte ein derart deutlich parteiergreifendes Werk wie die Klaviersonate 1945 per se ein Graus, eine schlimme Verfehlung sein. Der zu erwartende Beifall der ersteren, der Agitprop-Anhänger, hingegen wäre Hartmann zu billig und deshalb unwillkommen gewesen, hätte er doch dem „Manifestwert“ der Sonate gegolten, nicht aber zugleich ihrem autonomen Kunstwert.

Es scheint, daß Karl Amadeus Hartmann, der sich endlich verdientermaßen einen Namen zu machen begann, diesen falschen „linken“ Beifall für sein Stück mindestens ebensosehr fürchtete wie dessen Ablehnung von „rechts“ und es deshalb lieber in der Versenkung verschwinden ließ (sozusagen einem neuen, imaginären Zinkbehälter). Ende 1947 beschwert er sich in einem Brief an ein Linksblatt: „Bitte stecken Sie mich nicht in eine Schublade mit der Aufschrift 'sozialistische Kunst‘ (...) Mir ist es lieber, wenn Sie schreiben, ob Sie meine Musik gut oder schlecht finden.“ Die kunstfeindlichen Exzesse unter Stalin und Schdanow, die sich in jenen Jahren wieder einmal steigerten - etwa mit der offizielllen Abkanzelung Schostakowitschs und der gesamten „westlichen“ Moderne im Jahr 1948 -, ließen Hartmann, der doch mit dem Sozialismus stets sympathisiert hatte, der manche persönliche Freundschaft zu dessen Parteigängern unterhielt, gar keine andere Wahl, als auf Distanz zu gehen.

1950 trägt ihm die Akademie der Künste der DDR die Mitgliedschaft an. Er macht sich die Entscheidung noch immer nicht leicht, wägt ab, was er in Westdeutschland wohl einbüßen und was er dort gewinnen würde. Sein Freund Havemann reist eigens im Auftrag nach München, um ihn mit allen Mitteln zu beknien. „Laßt mir doch bitte etwas Zeit!“ beschwört ihn Hartmann. Schließlich schreibt er seine Absage: „Kann ich mitmachen, wo ein Schönberg, Stawinsky und auch Hindemith verstoßen wird?“ heißt es darin und: „Die freie Entwicklung der Musik geht mir halt über alles.“ Was sich in der folgenden Zeit in der DDR-Kulturpolitik, unter dem Banner des“ Kampfes gegen den Formalismus“, abspielte Dessau bekam es beispielsweise 1951, als er und Brecht die Oper Lukullus vorlegten, empfindlich zu spüren, auch Scherchen als Gastdirigent der Premiere wurde übrigens in diese Affaire verwickelt -, das konnte Hartmann in seinem Entschluß nur traurig bestärken. Nein, da mochte er nicht mitmachen. Spätestens die Enthüllungen über die Verbrechen der Stalin-Ära dann werden ihn endgültig bewogen haben, die Fahne, die er in der Sonate des Befreiungs- und Hoffnungsjahres 1945 so kühn gehißt hatte, still einzuholen und tief in der Schublade zu versenken.

Eine Abkehr von der Politik schlechthin, von politischem Denken und Trachten war dies keineswegs. Karl Amadeus Hartmann fuhr als Symphoniker unbeirrt fort, seine - wie er sich einmal ausgedrückt hat - „auf Humanität hinzielende Lebensauffassung einem künstlerischen Organismus mitzuteilen“. Er beteiligte sich Anfang der sechziger Jahre an der von Dessau angeregten Gemeinschaftskomposition Jüdische Chronik, einer künstlerischen Manifestation gegen den aufkommenden Neonazismus in der Bundesrepublik. Er komponierte noch kurz vor seinem Tod 1963 die apokalyptische Gesangsszene. Er trug sich mit Plänen für ein Oratorium über die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ von 1789 und für eine Oper nach einem alten spanische Revolutionsstück. Er unterwies und förderte zielstrebig solche jungen kritischen Talente wie Hans Werner Henze, Pierre Boulez und Luigi Nono. Er trat 1958 dem Komitee gegen Atomrüstung bei. Und er führte den Kampf gegen einen geschäftig leerlaufenden, geschichtsvergessenen Avantgarde -Musikbetrieb, dessen überheblicher Anspruch ihn in seinem Todesjahr den bitteren Satz schreiben ließ: „Wer glaubt, daß mit der nazistischen Epoche die Nötigungen ein Ende gefunden hätten, kennt sich im Leben nicht aus.“

Wenn Hartmann auch behauptete, er habe seine Sonate 27.April 1945 verbrannt, so ist uns der Notentext (in seinen verschiedenen Varianten) gleichwohl erhalten geblieben. 1983 wurde er im Rahmen der Werkausgabe veröffentlicht. Im Jahr darauf wurde das Werk bie einer Rundfunk-Studio-Matinee vorgestellt. Erst im Mai 1988, 43 Jahre nach ihrer Entstehung, fand die Sonate Eingang in einen repräsentativen Konzertsaal, und zwar beim dritten Internationalen Musikfestival in Leningrad, interpretiert von dem Nürnberger Pianisten und Dozenten Bernhard Böttner, der Hartmann persönlich gekannt hat. Inzwischen war das Werk auch hierzulande gelegentlich in Konzerten zu hören, etwa kürzlich im Rahmen einer großangelegten Nürnberger Klaviernacht, in der unteschiedlichste Kompositionen aus der Zeit des Dritten Reiches - begünstigte, geduldete, verbotene - vor Ohren geführt wurden und wo Hartmanns Dachau-Sonate übrigens unzweifehaft den stärksten Eindruck hinterließ. Und glücklicherweise liegt nun auch eine CD-Einspielung vor, bravourös gemeistert von dem Münchener Pianisten Benedikt Koelen.

Längst hat sich die Nachwelt über des Urhebers eigenes Verdikt längst begonnen hinwegzusetzen und die Sonate wieder hervorgeholt, die Hartmann verworfen hatte. Mit einiger Berechtigung, denn mit historischem Abstand verlieren - oder mindestens relativieren - sich Hartmanns einstige Bedenken und Skrupel. Sein Lebenswerk liegt abgeschlossen vor uns, ist ausgewiesen in seinem unbedingten künstlerischen Ernst, seiner Wahrhaftigkeit - da braucht die barrikadenstürmende, überschwenglich und vorsätzlich alle Sklavensprache abwerfende Sonate aus den April- und Maitagen 1945 wirklich nicht mehr diskret vertuscht zu werden, weil sie ihren Schöpfer vielleicht in einem falschen Licht, nämlich als plakativ „sozialistisch-realistischen“ Musikschmied erscheinen lassen könnte - einmal abgesehen davon, daß eigentlich schon ein einmaliges Anhören des Werks vom Gegenteil überzeugen müßte. Selbst in diesem Fall kennt Hartmanns Musik, wie Henze an ihr generell hervorhob, „nicht den banalen Anstrich des Offiziellen, sie ist bar jeglicher Eigenschaft, die sie zur Verherrlichung eines regressiven Systems geeignet machen könnte.“ Gewiß, im Allegro-Hymnus auf die roten Befreier schwingen auch tragische Illusionen mit - wir brauchen nur an die neuesten Enthüllungen über die sowjetischen Nachkriegslager in Ostdeutschland zu denken. Als Ausdruck eines großen Aufatmens und einer großen Hoffnung in damaliger Umbruchzeit aber behalten diese Klänge ihre Wahrheit - wie der schreckliche, trostlose Trauermarsch der Opfer, der so „endlos aus Nächtigem quillt“, immer wahr bleiben wird. „Auf gar keinen Fall dachte ich dabei jemals an eine politische Programm-Musik“, verwahrte sich Hartmann einmal gegen eine entsprechende Auslegung seiner 7.Symphonie. Auch die Klaviersonate von 1945 ist, entgegen ihrem ersten Anschein, keine Programm-Musik, die sozusagen fahrplanmäßig nachvollziehbar wäre. Bei aller liedhafter Zitierfreude folgt auch sie strengen Materialgesetzen wie zugleich unerforschlichen Eingebungen. Sie ist ein komplexes Ganzes, kein Potpourri abrufbarer einfacher Wahrheiten. Das Ganze soll ein Stück absoluten Lebens darstellen - Wahrheit, die Freude bereitet und mit Trauer verbunden ist“, so umschrieb Karl Amadeus Hartmann einmal das Ziel seines Komponierens. Ob dem nicht auch seine lange verschmähte und totgesagte Sonate 27. April 1945 die Treue hält, darüber sollten wir mit ihm potsum weiterstreiten.

Literatur:

Andrew D. McCredie: Karl Amadeus Hartmann. Sein Leben und Werk. Heinrichshofen, Wilhelmshven 1980

K. A. Hartmann: Kleine Schriften. Schott, Mainz 1965

Musik:

K. A. Hartmann, Sonate „27.April 1945„/L. Janacek, Sonate „Der Tod„/„1. X. 1905“. Klavier: Benedikt Koelen. CD. Col Legno (Vertrieb: Polygram)