Atomenergie heißt auch Tod

In der Atomzentrale Greifswald diskutierten AKW-Kritiker aus Ost und West die Wirkung niedriger Strahlendosen / Neubewertung des Risikos hat keine Senkung der zulässigen Grenzwerte zur Folge  ■  Von Gerd Rosenkranz

Greifswald (taz) - Der Schwerpunkt der Veranstaltung der örtlichen Bürgerinitiative gegen „Kernenergie“ markiert den Einzug westlich-routinierter Normalität in die Auseinandersetzung um die Atomkraft in der DDR: Im Schatten der maroden Atomzentrale des „KKW Nord“ bei Greifswald zerbrechen sich atomkritische Wissenschaftler aus Ost und West den Kopf über das mit dem Normalbetrieb der Anlage verbundene Strahlenrisiko.

Die Sorge scheint berechtigt, daß die Gefahr eines katastrophalen Unfalls, die nirgends sonst auf deutschem Boden so groß ist wie hier oben an der Ostsee, in Vergessenheit gerät. Doch die Diskussion über die Wirkung kleiner Strahlendosen an diesem Ort ist nur auf den ersten Blick abwegig. Seit immerhin 17 Jahren leben die Greifswalder und Tausende von „Strahlenwerktätigen“ mit „ihrer“ Niedrigstrahlung. Daß sie Krebs und Leukämie verursacht, wissen die meisten nicht.

Sebastian Pflugbeil, Ex-Interimsminister des Neuen Forums in der Regierung Modrow, weiß, daß er seinen gut 100 ZuhörerInnen an diesem Freitag abend einiges zumutet. Anhand schier endloser Zahlenreihen zeichnet der gelernte Physiker nach, was Strahlenbiologen und Statistiker in aller Welt in den vergangenen 30 Jahren herausgefunden haben. Es geht darum, wieviele Opfer wir in Kauf nehmen, wenn wir der natürlichen Strahlung eine bestimmte „hausgemachte“ Dosis hinzufügen. Das Ergebnis ist eindeutig: Die insbesondere aus den Langzeitfolgen der Atombombenabwürfe von Hiroshima und Nagasaki, aber auch aus Krebsstatistiken in der Umgebung von Atomanlagen errechneten „Krebsraten“ sind seit Ende der 50er Jahre kontinuierlich gewachsen, insgesamt etwa auf das Hundertfache.

Heute rechnen die führenden internationalen Wissenschaftler bei einer Bestrahlung von einer Million Rem (10.000 Sievert), verteilt auf eine beliebige große Zahl von Menschen (also z.B. je ein Rem für eine Million Menschen) mit um die tausend zusätzlichen Krebstoten. Noch in den siebziger Jahren erwarteten zum Teil dieselben - in aller Regel atomfreundlichen - Experten „nur“ einige Dutzend zusätzliche Strahlentote.

Daß „honorige internationale Kommissionen klebrig hinter ihren eigenen Erkenntnissen herhinken“ und ihre Grenzwertempfehlungen für Strahlenarbeiter trotz der Neubewertung des Risikos bis heute nicht gesenkt haben, nennt Pflugbeil einen Skandal. Selbst wenn die meisten Beschäftigten in Greifswald und anderswo den international üblichen Jahresgrenzwert von fünf Rem nur zu einem Zehntel „ausschöpften“, sei das berufliche Todesrisiko im AKW -Bereich vergleichbar mit dem im Kohlebergbau oder in der Öl - und Gasförderung.

Die Bremer Professorin Schmitz-Feuerharke konfrontiert die Versammlung mit Studien, die sämtlich die Krebs- und Leukämiehäufigkeit in der verstrahlten Umgebung von Atomanlagen von Tschernobyl über Sellafield bis Würgassen zum Gegenstand hatten - und mit den versuchen der AKW -Betreiber, den Verdacht mit teils absurden Theorien von sich abzulenken. So veröffentlichte eine britische Medizinerin eine Studie, wonach zwar die erhöhte Leukämiehäufigkeit bei Kindern ein Fakt sei, diese jedoch auch in der Umgebung von nur geplanten, aber nie errichteten Atomanlagen zu finden sei. Diagnose: Radiophobie. Die Kinder sterben an ihrer Angst, nicht an der Strahlung. Abgelöst wurde diese Theorie von einer neuen, 1989 ebenfalls in England publizierten Vorstellung. Danach sind die zusätzlichen Erkrankungen darauf zurückzuführen, daß die Immunsysteme der Einheimischen an Atomstandorten durch den massenhaften Zuzug der Atombeschäftigten geschwächt werden...

Spätestens hier wird dem Publikum klar, daß es bei der Frage der Grenzwerte im Kern um Ökonomie geht, weniger um die Gesundheit der Beschäftigten oder der AnwohnerInnen. „Die Nuklearindustrie könnte nicht weiterexistieren, wenn die Grenzwerte auf ein Zehntel gesenkt werden müßten“, glaubt Schmitz-Feuerharke und ruft damit Rudi Peters auf den Plan, den Strahlenschutzbeauftragten des KKW Greifswald. Peters (der im übrigen Pflugbeils „Zahlenspielereien“ nicht mag und dem in diesem Zusammenhang die 8.000 Menschen einfallen, die in der BRD Selbstmord begangen haben) bestätigt jedoch ungewollt die These der Physikerin. Zwar gebe es viel größere Risiken, etwa beim Autoverkehr. Er jedoch will „viel tun, um die Strahlenbelastung des Kollektivs der Strahlenwerktätigen zu senken“. Und weiter: niedrigere Strahlenbelastungen „bedeuten allerdings einen höheren ökonomischen Aufwand“. Nach welchen Maßstäben sich dieser in der DDR - und man kann annehmen: nicht nur dort bisher bemißt, belegt Pflugbeil anhand eines Zitats aus einem Report des Staatlichen Amts für Strahlenschutz (SAAS): „Es wird davon ausgegangen, daß zur Abwendung einer Gesundheitsgefährdung soviel Geld aufgewendet werden sollte, wie durch Eintritt des Gesundheitsschadens an ökonomischem Schaden entsteht. Der ökonomische Schaden kann in erster Näherung mit dem Verlust an dem Pro-Kopf erzeugten gesellschaftlichen Gesamtprodukt bestimmt werden.“ Das ist deutlich.