Verfassungsdetails aus dem Bonner Diktat

■ Dokumentarische Hinweise und Vergleiche der Expertenentwürfe in der deutsch-deutschen Verfassungsdiskussion

1. Verfassungsrechtliche Dissenspunkte zwischen DDR und BRD:

In dem am Wochenende ausgearbeiteten „vorläufigen Grundgesetz der DDR“ haben die Vertreter der Bonner Ministerien in eckigen Klammern deutlich festgehalten, was auf jeden Fall nichtin einer DDR-Verfassung stehen darf.

-Ausländer und Staatenlose mit ständigem Wohnsitz haben Wahlrecht auf kommunaler Ebene (Art. 3,3)

-Niemand darf...wegen seiner sexuellen Orientierung...benachteiligt oder bevorzugt werden (Art. 9,2)

-Frauen haben das Recht auf selbstbestimmte Schwangerschaft (Art. 11,3)

-Die DDR gewährt politisch Verfolgten Asyl (Art. 16,3)

-Das Gesetz hat durch Verfahrensregelungen sicher zu stellen, daß die Vielfalt der in der Gesellschaft vorhandenen Meinungen im Bereich von Presse...zum Ausdruck kommen kann (Art. 17,2)

-Vereinigungen, die sich öffentlichen Aufgaben widmen und dabei auf die öffentliche Meinungsbildung einwirken (Bürgerbewegungen), genießen als Träger freier gesellschaftlicher Gestaltung, Kritik und Kontrolle besonderen Schutz der Verfassung (Art. 22,2)

-Streik und Abwehraussperrung (Arbeitskampf) sind zugelassen, soweit sie nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen (Art. 23,2)

-Jeder Bürger hat das Recht auf Arbeit oder Arbeitsförderung (Art. 24,2)

-Erweiterter Kündigungsschutz für Alleinerziehende (Art. 25,5)

-Steigert sich der Wert von Boden auf Grund seiner planerischen Umwandlung in Bauland, so steht den Gemeinden ein Ausgleich für die Wertsteigerung zu (Art. 23,1)

-Wer Umweltschäden verursacht, haftet und ist für Ausgleichsmaßnahmen verantwortlich (Art. 34,3)

-Der unentgeltliche Zugang zu den öffentlichen Bildungs und Ausbildungseinrichtungen (Art. 37,1)

-Das Recht der Eltern, die Erziehung ihrer Kinder mitzubestimmen, ist bei der Gestaltung des öffentlichen Bildungswesens zu gewährleisten (Art. 38,2)

2. Zur Frage der sozialen Marktwirtschaft:

Eine zentrale deutsch-deutsche Debatte dreht sich gegenwärtig um den Begriff der sozialen Marktwirtschaft im Staatsvertrag und in den Verfassungsentwürfen. Die SPD ihrerseits hat durch einen eigenen Entwurf zum Staatsvertrag den Begriff der sozialen Marktwirtschaft zu konkretisieren versucht. Im Grundgesetz gibt es keine konkreten Formulierungen zu diesem Begriff, nur den Hinweis auf die soziale Bindung des Eigentums. Der Entwurf des Staatsvertrages versucht über die Definition des Begriff soziale Marktwirtschaft eine konservative Umwertung einzuleiten.

a. Staatsvertrag: „Grundlage der Wirtschaft ist die soziale Marktwirtschaft“, die nur durch „Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildung und grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Gütern und Dienstleistungen“ definiert wird. Dem Umweltschutz wird nur „Rechnung getragen“. Die Sozialgemeinschaft“ „ergänzt“ nur die Währungsunion (Art. 1,2 und 4).

b. SPD-Entwurf zum Staatsvertrag: Der SPD-Entwurf will die soziale Marktwirtschaft dadurch absichern, daß „die Sozialgemeinschaft mit der Währungsunion und die Wirtschaftsgemeinschaft eine Einheit (bildet)“ (Art.1,4)

c. Vorläufiges DDR-Grundgesetz: Dort werden drei Alternativen zur Frage der sozialen Marktwirtschaft aufgeführt. Analog zum Entwurf des Runden Tisches wird in der ersten Alternative zum Art.27 gefordert: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen sozialer Gerechtigkeit dienen.“ Die Bonner Vertreter formulierten die zweite Alternative: „Die Ordnung des Wirtschaftslebens muß den Grundsätzen der sozialen Marktwirtschaft entsprechen.“ Die DDR-Verfassungsrechtsexperten favorisierten aufgrund dieses unüberwindbaren Dissenses die Version des Grundgesetzes: „Keine Regelung“ (Alternative drei).