Letzter Kampf um neue DDR-Verfassung

■ Der Versuch der DDR-Regierung, einen Verfassungsentwurf zustande zu bringen, brachte die Verfassungsexperten am Runden Tisch wieder ins Spiel. Gestern wurde unter Mitarbeit Bonner Beamter ein Entwurf ausgearbeitet, doch die Bonner bestanden auf dem Vorrang des Staatsvertrags.

Zwei Tage Zeit für die Ausarbeitung einer neuen DDR -Verfassung; ein Entwurf, bei dem die Schlüsselartikel zwei bis drei widersprechende Alternativen anbieten: Das läßt auf eine Verhandlungssituation schließen, die man unter normalen Bedingungen bei einem Hauskauf gewiß ablehnen würde. Aber für die Ausarbeitung einer Übergangsverfassung für die DDR gelten keine normalen Bedingungen. Hast, Bonner Erpressung und ohnmächtiger Streit um die Gleichberechtigung regieren die Verhältnisse. Eine „Expertenkommission“ oder „Arbeitsgruppe“ hat im Auftrag des DDR-Justizministeriums kurzfristig ein „Vorläufiges Grundgesetz der DDR“ vorgelegt. Der Text liegt der taz vor. Je nach Betrachtungsweise ist es ein Dokument des Bonner Diktats oder das letzte Aufbäumen gegen dieses Diktat.

Zur Vorgeschichte: Die große Ostberliner Koalition hatte rundweg den Verfassungsentwurf des Runden Tischs abgelehnt. Daß er das „Vermächtnis des Runden Tischs“ war und auch von Verfassungsrechtlern der Bundesrepublik Deutschland als ein beachtenswerter Beitrag zur Verfassungsentwicklung gewürdigt wurde, zählte wenig. Die Regierung de Maiziere befürchtete realistischerweise, daß eine Verfassungsdiskussion alle Zeitpläne der Verhandlungen über den Staatsvertrag und mithin über die Währungsunion in Gefahr gebracht hätte. Zudem ging es der Regierung um eine eindeutige Zäsur gegenüber dem Runden Tisch. Die Position der Sozialdemokraten, folgt man den Worten des Fraktionsvorsitzenden Schröder, war es, allenfalls von Fall zu Fall Bestimmungen des lobenswerten Entwurfs des Runden Tischs in die Volkskammer einzubringen. Mit einer knappen Mehrheit von zwölf Stimmen lehnte die Volkskammer vor zwei Wochen ab, den Entwurf des Runden Tischs im Ausschuß für Verfassungs- und Verwaltungsfragen überhaupt zu behandeln.

Damit erhob sich die Frage, auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage denn überhaupt Gesetze in der Volkskammer verabschiedet werden konnten. Die Verfassung von 1968 lehnten alle Parteien ab. Insbesondere die DSU, aber auch die CDU favorisierte die Rückkehr zur Verfassung von 1949, einem Vorschlag der LDPD vom Dezember folgend. (Damals war noch Gerlach (!) der Vorsitzende.) Die 49er Verfassung lockte offenbar deswegen, weil sie noch von der Einheit Deutschlands ausging und nicht die führende Rolle der Partei des Proletariats festgeschrieben hatte. Doch wurde offenbar übersehen, daß sie statt Gewaltenteilung eine Gewaltenkonzentration vorschreibt. Unter anderem gibt es da den Artikel 92, wonach „alle Fraktionen, soweit sie mindestens 40 Mitglieder haben, im Verhältnis ihrer Stärke durch Minister und Staatssekretäre vertreten (sind)“. Demzufolge müßte es nach der jetzigen Zusammensetzung der Volkskammer eine Regierung von CDU, SPD und PDS geben. Der Justizminister Wünsche, der an der Ausarbeitung der Verfassung von 1968 beteiligt war, wußte natürlich, zu welchen Absurditäten die Rückkehr zur 49er Verfassung führen würde.

Am 27. April begann er, sich eine Expertengruppe für einen eigenen Verfassungsentwurf zusammenzustellen. In der geplanten Arbeitsgruppe waren als Experten Rosemarie und Hans-Jürgen Will eingeladen, die vorher bis zur Endredaktion einen bestimmenden Einfluß auf die Ausarbeitung des Verfassungsentwurfes vom Runden Tisch gehabt hatten. Wünsche hatte insbesondere seine Kollegin von der Humboldt -Universität und Vorsitzende der Sektion Justiz, Rosemarie Will, eingeladen, weil es in der DDR an Verfassungsexperten mangele. Er forderte sie dennoch auf, keineswegs Elemente des Entwurfs des Runden Tischs hineinzuschmuggeln. Am 3. Mai erteilte der Ministerrat das Placet. Daß de Maziere grünes Licht für eine neue Verfassungsdiskussion gab, könnte mit einem persönlichen Gutachten von Kurt Biedenkopf über den Staatsvertragsentwurf zu tun haben: Biedenkopf formuliert da verfassungsrechtliche Bedenken, sieht die „Gleichgewichtigkeit“ der Vertragspartner nur „formell“ gewahrt und kritisiert, daß der Begriff „sozial“ in den Ausführungen zur „sozialen Marktwirtschaft“ nicht konkretisiert wurde.

Der Beginn der Expertenkommission stand unter bedenklichen Vorzeichen. Das „Wahlbündnis 90“, das gewissermaßen die „Verfassungspartei“ der Volkskammer ist, verweigerte die Teilnahme unter Verweis auf den Entwurf des Runden Tischs. Angelika Barbe (SPD, Mitglied des Verfassungsausschusses) und Kögler (DA, ebenfalls Verfassungsausschuß) stellten die Legitimität der Kommission in Frage. Sie sahen die Vorrechte des Parlamentes beschnitten. Andere ehemalige Mitarbeiter des Verfassungsausschusses vom Runden Tisch beteiligten sich nur zähneknirschend an der „Leichenfledderei“ ihres Entwurfs, sahen aber in der Arbeit die letzte Chance, eigene Verfassungsansprüche der DDR noch politisch ins Spiel zu bringen. Bei der Eröffnung am 5. Mai machte der Vertreter des Justizministeriums klar, daß die Arbeit bis zum 6. Mai abends abgeschlossen sein mußte. Außerdem wurden noch die Herren aus Bonn angesagt. Aus der Bundeshauptstadt nahmen Teil: Meyer-Teschendorf, künftiger Chef der Deutschlandabteilung des Bundesinnenministeriums, Dr. Weiß, Referatsleiter für Verfassungsfragen im Justizministerium, und Hahlen vom Innenministerium. Als Berater de Mazieres trat der Richter am Bundesverwaltungsgericht, Vogelgesang, auf. Es stellte sich schnell heraus, daß der Grundrechtsteil und alle Fragen das Staatsaufbaus von der 49er Verfassung nicht übernommen werden konnten und daß auf Formulierungen des Runden Tischs zurückgegriffen werden mußte. Beherrscht wurde jedoch die Diskussion vom Konflikt um die „Bonner“ Marschroute. Die bundesrepublikanischen Vertreter hakten bei jedem Gegensatz zum Grundgesetz ein, erklärten - unter Mißachtung der Tatsache, daß schließlich eine neue Verfassung ausgearbeitet werden sollte - alternative Formulierungen als nicht „verfassungskonform.“ Ab einem bestimmten Zeitpunkt legten sie den Staatsvertrag auf den Tisch und machten klar, daß der Verfassungsentwurf sich nach dem Staatsvertragsentwurf zu richten habe und nicht umgekehrt. Ein Vorgehen, daß eine Teilnehmerin, Angelika Barbe, bis zu Tränen erschütterte. Bei allen Streitpunkten, bei der Rolle der Bürgerbewegungen im politischen Willensbildungsprozeß, bei der Fristenlösung, beim kommunalen Ausländerwahlrecht, bei der Frage des Rechtes auf Arbeit formulierten die „Bonner“ ihren Dissens. Er wurde in eckigen Klammern verwahrt. Der Dissens konnte nicht ausdiskutiert werden: dazu fehlte der Gruppe Zeit und Legitimation. Die „Bonner“ akzeptierten aber das Verfahren, vorausgesetzt, die eckigen Klammern seien deutlich lesbar. Was herauskam, ist eine multiple-choice-Verfassung, die sehr deutlich macht, was die Verfassungsrechtler der DDR retten wollen, und welche Verfassung in den Bonner Ministerien für das geeinte Deutschland vorgesehen wird. Trotz des Verfahrens mit den eckigen Klammern muß es dann am Wochenanfang in Bonn doch nachträglich erhebliche Bedenken gegeben haben. Es wurde befürchtet, daß zuviele Verfassungswünsche der DDR in den Entwurf und mithin in Volkskammerdiskussion Eingang finden. Jedenfalls telexte Klaus Kinkel, Staatssekretär vom Bundesjustizministierium, und bestellte Wünsche zum Rapport.

Klaus Hartung