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Ein Unruhestifter als Ruheständler

■ Der Schriftsteller Gerhard Zwerenz geht in Rente - Ein Porträt von Lothar Simmank

Die schwarze Standuhr auf seinem Schreibtisch tickt zu schnell. Der Zeitmesser geht fünf Minuten vor. Schon immer war das so: Der fixe Schreiber Gerhard Zwerenz war seiner Zeit voraus.

Er war es, der 1944 von der deutschen Wehrmacht desertierte, als die meisten anderen Soldaten noch brav weiterkämpften. Er kehrte bereits 1957 der DDR den Rücken, weil er schon damals das gesagt hatte, „was heute in der DDR alle sagen“. Zwerenz wollte die deutschen Schriftsteller schon unter das Gewerkschaftsdach der IG Druck und Papier bringen, bevor seine berühmteren Kollegen Lattmann und Grass dies im Sinn hatten. „Freie Sexualität!“ rief er ins Volk lange vor den 68ern. Und die Idee zum Drehbuch für die Ehe der Maria Braun hatte er, als von Fassbinder noch gar nicht die Rede war.

Am Anfang war Zwerenz. Sein „Ich bin allhier“ schallt landauf landab durch die Medienwelt. Über 100 Bücher mit einer Gesamtauflage von fast drei Millionen hat er selbst geschrieben. Im heimischen Oberreifenberg, wo er seit einem Jahrzehnt residiert, kann der Dichter darüberhinaus auf einen ganzen Nußbaumschrank voller „Zwerenze“ verweisen: Bücher, zu denen er einen Autorenbeitrag geleistet hat. Auch in Radio und Fernsehen ließ er oft seine mahnende Stimme hören. Als Tabubrecher war er in Talkshows ebenso begehrt wie gefürchtet.

„32 Jahre Kopfarbeit“, sagt das Arbeiterkind aus der Ziegelei im Vogtland nachdenklich und faltet die Hände. Nun soll's genug sein. Zwerenz, der renegate Genosse - wie ihn seine Feinde schimpften, der politisierende und bumsfidele Literat - wie ihn der 'Spiegel‘ verhöhnte, Zwerenz, der alte Kämpfer an allen Fronten ist grau geworden. Seine Haarsträhnen sehen aus wie mit Asche bestreut, und auch aus dem Bart hat sich das potente Schwarz verabschiedet. Zwerenz geht in Rente. Mit 65. Am 3. Juni 1990. Endgültig. Aus.

„Ich schreibe nichts Neues mehr“, sagt er, und niemand glaubt ihm. Er, der stets mit Druckfrischem zur Stelle war, egal, ob ein linkes Pamphlet zu verfassen, ein Sex-Knigge zu erarbeiten oder die Liebeschancen in zwölf Horoskopbänden von Januar bis Dezember zu orakeln waren - auf Zwerenz war Verlaß. Immer war er zur rechten Zeit am Markt. Nie schlug er ein wie eine Bombe, aber mit steter Beharrlichkeit füllte er Meter um Meter im Bücherregal.

Jetzt soll das alles vorbei sein. Unruhestifter Zwerenz als Ruheständler? Seit seinem 13. Lebensjahr, seit er morgens um halb sechs als Lehrling mit dem Fahrrad in die Kupferschmiede fuhr, habe er „geklebt“, berichtet der angehende Rentner nicht ohne einen gewissen Triumph in der Stimme. Während er im Souterrain seines Bungalows auf halber Feldberghöhe in Plüschpantoffeln und ärmellosem Pullover auf den Rentenbescheid wartet, müssen andere Meister der Feder sich bis ins hohe Alter hinein abrackern. Das Zwerenzsche Spätwerk hingegen ist schon geschrieben. Liegt in der Schublade. Muß nur noch „redaktionell überarbeitet“ werden. Philsophisch soll es werden, ganz so wie der alternde Zwerenz selbst.

Während der Büchermacher im Sessel neben dem Schreibtisch sinniert, richten sich die müden Augen unter den noch tiefschwarzen Brauen starr in imaginäre Weiten. Verfolgt man den Blick, so endet er an einer Blindglastür - dem Eingang zur Schriftstellerwerkstatt im Kellergeschoß. Vormittags saß er hier unten an der Schreibmaschine gegenüber der verspiegelten Wand auf gut einem Dutzend Teppichen und tippte sein tägliches Pensum von 20 Manuskriptseiten. Nachmittags strich er das Gedichtete dann mit Hilfe von Frau Ingrid, der Gattin und Kollegin, auf zehn Seiten zusammen.

Ein Vielschreiber. Einer, der auf Vorrat arbeitet. Der keiner literarischen Gattung treu bleiben kann. Lyriker, Pornograph, Chronist. Unstet wechselte er die ideologischen Fronten, schrieb heute in der 'Frankfurter Rundschau‘, morgen im 'Playboy‘. Immer war er gegen alles. Die einzige Konstante: Auf sein Außenseitertum hielt er hohe Stücke. Wenn er Imagepflege für die eigene Person betrieb - und das war nicht selten -, so war er stets um das Etikett „ganz anders als erwartet“ bemüht.

Klar, daß Zwerenz das Mißtrauen der Zunft auf sich zog. Der 'Spiegel‘ nannte ihn einst „Ekel Alfred des deutschen Literaturbetriebs“ - ein Titel, den Zwerenz heute zwar witzig, aber nicht unbedingt schmückend findet. Denn bei allem Drang zur Unangepaßtheit hat Zwerenz durchaus den gleichen Missionseifer wie die „seriösen“ Literaten: Zwerenz ist Moralist. Donnernd pocht er auf die deutsche Geschichtsschuld, deutet mit obszön erhobenem Zeigefinger auf verlogene Sittlichkeitsapostel und führt bittere Anklage gegen ungerechte Strukturen. Nur: kann jemand wie Zwerenz die Autorität eines Heinrich Böll beanspruchen, wenn er von Krieg und Frieden redet? Glaubt man einem Autor lüsterner Bettgeschichten, wenn er Folterungen auf bundesdeutschen Polizeiwachen anprangert?

Die Tragik des Moralisten Gerhard Zwerenz ist, daß ihn niemand ernst nimmt. Eine Autorität, die Tabubrüche zu ihrer Lieblingsbeschäftigung erkoren hat, findet keine Anerkennung. Zwar steht sein Name in jedem Literaturlexikon, im Who is who und im Munzinger, doch zu den Großen der Nachkriegsliteratur wird er nicht gerechnet. Kritiker und Kollegen rümpfen die Nasen. Daran änderten auch Auszeichnungen wie der Ernst-Reuter- und der Carl-von -Ossietzky-Preis nichts. Den Schriftstellerverband hat Zwerenz verlassen. Wen wundert's? Der Schreibarbeiter Zwerenz hat den Mythos vom musengeküßten Dichter, der in gefahrvollen Höhen schwebt und sein Werk vom Himmel auf die Erde fallen läßt, rücksichtslos zerstört. Zu schnell produziert er, zu irdisch redet er von zarten Liebesdingen. Selbstdarstellerisch macht er das eigene Leben zum Sujet seiner Bücher. Und nun geht der Moralist auch noch in Rente. Das ist einfach zuviel.

„Ich habe die intellektuellen Himmelfahrtsphantasien der Herren Kollegen nie mitgemacht“, sagt der Außenseiter grimmig lächelnd. Gruppen sind ihm verhaßt, und: „Ruhm ist mir völlig egal.“ Ein Arbeiter sei er immer geblieben. Wie seine Großeltern und der Vater in der Ziegelei und die Mutter in der Textilfabrik, nur eben in der „weitaus luxuriöseren Tätigkeit“ eines Schreibers.

Vergiß die Träume Deiner Jugend nicht, beschwört sich Zwerenz selbst mit dem Buchtitel seiner autobiographischen Deutschlandsaga. Das im vergangenen Jahr erschienene Werk beschreibt die abenteuerliche und wunderliche Irrfahrt „eines exemplarischen Deutschen“: Zwerenz kämpft als Bloch -Schüler in der Schlacht von Monte Cassino; Zwerenz, der Pazifist, tötet einen deutschen Soldaten, um dessen Uniform zu rauben; Zwerenz schläft als ehemaliges SED-Mitglied in West-Berlin mit der Pistole unter dem Kopfkissen. „Rückblickend komme ich mir vor, wie von Grimmelshausen erfunden“, sagt er selbst über sich. In der Tat: Der moderne Simplicius Simplicissimus montierte in seiner Kellerwerkstatt das eigene Leben literarisch zusammen. Vom unwissenden Dorfbub zum reflektierten Dicher. Ein Dichter ohne Reputation, wie seinerzeit Grimmelshausen im Dreißigjährigen Krieg.

Was hat er noch vor, der Rentner Zwerenz? „Für einen alten Herrn ist die Perspektive das Abtreten“, grübelt der 64jährige. Gleich will er mit dem Chow-Chow Billy durch die Taunuswälder streifen. Er hält ihn nie an der Leine, obgleich das Tier „ein wenig unberechenbar“ sein soll. Der Schreibtisch im Souterrain ist leer. Zwerenz, der Rentner, geht spazieren.

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