Übernähe

■ Filme von Monica Vitti und Bertrand Tavernier

Cannes (taz) - Monica Vitti verdankt die Filmgeschichte einen ihrer zwei oder drei unvergeßlichen Momente. Es handelt sich um eine Szene aus Antonionis Film L'avventura, der hier in Cannes vor dreißig Jahren Skandal machte: ein Hotelzimmer in einer kleinen sizilianischen Stadt. Vor dem offenen Fenster fährt ein Reklamewagen vorbei, aus dessen Megaphon schrille Schlagermusik dringt. Monica Vitti dreht eine Pirouette und singt aus vollem Halse mit. Das ganze dauert nur ein paar Sekunden und ist so unsagbar schön, daß man es nur zitieren kann.

Jetzt, 25 Jahre nach ihrer Trennung von Antonioni - aber sie wohnen immer noch im selben Haus - und nachdem sie in vielen kleinen italienischen Filmen ihr komisches Talent entfaltet hat, hat Monica Vitti nun ihren ersten Film gemacht, Scandalo Segreto. Sie spielt die 50jährige Margherita, die zum Geburtstag eine Kamera geschenkt bekommt, ein supermodernes japanisches Ding, das sich von alleine an- und ausschaltet, selbsttätig zoomt und schwenkt und sich zu Wort meldet, wenn das Licht nicht ausreicht. Diese Kamera ist die Zeugin - und wird von Margherita auch als solche eingesetzt - der Krise und Trennung nach zwanzig Jahren vermeintlich glücklicher Ehe. Eine Art Bergman als rasende Commedia dell'arte. Monica Vitti breitet ihr ganzes Repertoire an stummem Witz und wortreicher Verzweiflung vor uns aus. Immer noch beißt sie sich in Augenblicken der Irritation und flüchtigen Eingedenkens auf die Unterlippe, und immer noch ist es unmöglich, sie nicht zu lieben.

In das „Grand Auditorium Lumiere“ des Palais du Festival passen etwa 3.000 Personen. Vor den Vorstellungen wird der rote Vorhang hochgezogen und die Leinwand eingestellt. Langsam fahren die Ränder auseinander - ein erhabener Moment. Bei Taverniers Daddy Nostalgie dauert es fast eine Minute, und am Ende ist die Leinwand an die vierzig Meter breit.

Jane Birkin, das ewige junge Mädchen, spielt eine Drehbuchautorin, die für kurze Zeit in ihr Elternhaus an der französischen Mittelmeerküste zurückkehrt. Ihr Vater - Dirk Bogarde -, ein eleganter, einst wohlhabender Mann, hatte einen Infarkt. Er wird nicht mehr lange leben. Die Mutter Odette Laure - wahrt die Konvention im Hause und wird von Vater und Tochter leise dafür verachtet. Daddy Nostalgie notiert das Ungesagte in diesen Beziehungen, die Bitterkeiten, die Umarmung zwischen Vater und Tochter, die nicht stattfindet und nach dem Tod des Vaters nicht mehr möglich sein wird, und auch das Bewußtsein der drei Beteiligten, daß all das als Hypothek bestehen bleiben wird. So gut wie nie erliegt der Film der Gefahr der bittersüßen Sentimentalität, er bleibt kühl in der Zärtlichkeit. Nie ist das Cinemascope-Format erhabener, als wenn es - statt gigantischen Panoramen - die kleinen Accessoires, Gesten und Mienen der Innerlichkeit zeigt.

Thierry Chervel