JEDEM BILD EINE WAND

■ Raoul de Keyser in der Galerie Wewerka

Von diesen Bildern geht eine Unruhe aus. Sie scheinen zunächst ruhig, unbeweglich; die Farben in geometrischen Formen erstarrt. Plötzlich beginne sie sich zu bewegen und die Farbe schwebt im Raum.

De Keyser arbeitet an großformatigen Tafelbildern und verwendet in der Präsentation bei Wewerka vor allem Fleischfarbe, die zwischen Sand und lichtem Ocker changiert. Kaum merklich verändert sie sich von unten nach oben. Ein satter, dichter Ton dünnt in der Mitte aus, schwächt ab, hellt auf - wie eine Haut, die bläßlich blieb. In diese labile Fleischfarbe keilt sich ein schwarzbraunes Rechteck zwei Drittel tief ins Hochformat. Eine Art schematisiertes Hufeisen entsteht. Schwarf trennen sich die beiden Farben. Keine Übergänge, harte Kanten. Aber diese Trennschärfe bleibt nicht konstant. Es bildet sich allmählich eine Art Blende über den Farben, sie beginnen sich im Auge zu mischen, zu bewegen, lösen sich vom Malgrund und erreichen ein schwebendes Volumen. Dies unterstützen die wie gedankenverloren über die strenge Planimetrie gefegten weinigen Pinselstriche - als habe der Maler von der kalkuliert entworfenen Farbanordnung abgesehen und blind den Pinsel über den oberen Teil pendeln lassen. Damit wird der Malgrund für das Auge ungewiß und greift über den Rahmen hinaus in den Raum.

De Keyser kann Rothko nicht ersetzen und Newman nicht übertreffen. Aber seine Arbeiten machen etwas sichtbar, was diese so nicht zeigen konnten. De Keyser hat begonnen, die Mittel Subjektivität und Zeit in diese materialbetonte Verfahrensweise einzuführen. So gilt nicht mehr allein das Prinzip „die Farbe selbst„; es kündigt sich etwas anderes an.

Dies rechtfertigt, daß Wewerka jeder Wand ein einziges Bild widmete. Denn der Rahmen des Bildes ist nicht dort, wo er de facto ist - also längs der Leinwand - sondern labil und schwankend: so weit die Farbe trägt. Deshalb muß es richtig heißen: Jedem Bild ist eine Wand gewidmet. Nur so können sich die Farben optimal entfalten.

Peter Herbstreuth

Raoul de Keyser bis zum 2. Juni in der Galerie Wewerka, Pariser Straße 63.