Rappes hilfloser Appell an die Chemie

■ Die bundesdeutschen Chemiekonzerne zeigen wenig Interesse, in die DDR-Chemie einzusteigen

Berlin (taz) - Für den 29. Mai sind in den Leuna-Werken bei Merseburg im Bezirk Halle Betriebsratswahlen angesetzt. Damit soll in diesem größten chemischen Werk der DDR eine neue gewerkschaftliche Zukunft beginnen: die Umstellung auf die Belegschaftsvertretung nach bundesdeutschem Muster. Ganz neu wird die Zukunft wahrscheinlich nicht werden, denn der bisherige Vorsitzende der Betriebsgewerkschaftsleitung, so heißt es, habe sich entschlossen, sich künftig als Betriebsratsvorsitzender in den Dienst der Belegschaft zu stellen.

Neu werden lediglich die Probleme sein, mit denen er, wenn er gewählt wird, fertig werden muß. Von den 27.000 Leuna -Arbeitsplätzen werden nach Informationen der Gewerkschaft kurzfristig 900 wegfallen. Aber allen ist klar, daß dies nur der Anfang einer Entlassungswelle sein wird.

Das Wunder wäre der Einstieg der großen bundesdeutschen Chemiemultis in die DDR-Chemieindustrie. Nur so könnte ein größerer Teil der Arbeitsplätze in den Porduktionsstätten der chemischen Industrie der DDR in die neue marktwirtschaftliche Zukunft hinübergerettet werden. Bei einem Pressegespräch im IG-Chemie-Verbindungsbüro in Ost -Berlin räumte jedoch der IG-Chemie-Vorsitzende Hermann Rappe in Anwesenheit seines DDR-Kollegen Hartmut Löschner ein, das westdeutsche Kapital zeige sich außerordentlich zögerlich beim DDR-Engagement: Am DDR-Markt sei man zwar interessiert, an der Arbeit dagegen nicht.

Rappe, der auch diese Gelegenheit nicht ausließ, auf die guten sozialpartnerschaftlichen Beziehungen seiner Gewerkschaft zu den Arbeitgebern hinzuweisen, sah sich nun genötigt, an das Verantwortungsgefühl der Chemiemanager zu appellieren: Man könne nicht die Widervereinigung fordern und dann nichts dafür tun. Er versprach, die Chemiemultis noch einmal ins Gebet zu nehmen. Ob das was nützen wird, erscheint fraglich. Der DDR-Markt ist durch geringfügige Produktionsausweitung auf den bestehenden Anlagen von Bayer, Höchst, BASF & Co leicht zu bedienen. Und die immensen, in ihrer Dimension noch nicht absehbaren Kosten einer ökologischen Sanierung der DDR-Produktionsanlagen schrecken noch mehr als ihr Produktivitätsrückstand. So erwarten auch die Chemiegewerkschaften Ost wie West für die Beschäftigten ihres Organisationsbereichs wenig Tröstliches. Ein Arbeitsplatzverlust von mehr als 100.000 wird für möglich gehalten, auch wenn entsprechend den gewerkschaftlichen Forderungen vorerst auf ökologische Radikallösungen verzichtet wird. Da werden auch die Appelle von Hermann Rappe wenig helfen.

Martin Kempe