Die Schönheit des einzelnen

■ Jean-Luc Godards „Nouvelle Vague“ mit Alain Delon und Domiziana Giordana

Freitag morgen, 8.30 Uhr. Der Saal ist besetzt bis auf den letzten Klappsitz, keine Pressevorführung war bisher so voll, und in keiner herrschte so eine Atmosphäre echter Nervosität. Erstaunlich, wie Godard, der wenig Geliebte, das immer wieder hinkriegt. Das Prinzip ist dasselbe wie vor ein paar Jahren in „Detective“, es besteht in der Zusammenarbeit mit einem Superstar, den niemand in einem Godard-Film nicht erwarten würde. Damals war es Johnny Hallyday, jetzt also Alain Delon. „Eine riskante Mischung“, schreibt 'Liberation‘, „eigentlich wider die Natur, schockierend.“ Nach der Vorführung drängeln sich an die 400 Journalisten, über zwanzig Fernsehteams richten ihre Kameras auf Godard. An seiner Seite die Hauptdarstellerin Domiziana Giordana (die geradezu erschreckend schöne langhaarige Blonde aus Tarkowskys Nostalghia), Delon ist nicht erschienen. Godard nuschelt seine Vertracktheiten und bitteren Bonmots ins Mikrophon. Das Medieninteresse ist trügerisch. Der Film wird, wie alle späten Godard-Filme, nach zwei, drei Wochen in den Programmkinos verschwinden. Godard selbst ist aus dem Film verschwunden. Nouvelle Vague - „die neue Woge“ ist sein erster Film, in dem sein Name im Titelvorspann nicht erscheint. Kein Wort ist von ihm, sagt er, alles eine Zitatmontage aus Schriftstellern - Hemingway, Renard, Chandler, Dostojewski, Racine, auch die Bibel. Vor der Premiere hatte es ein anderes Gerücht gegeben: Der Film habe mehr als die letz-ten Godard-Filme wieder eine Geschichte. Das sei De-lons Bedingung gewesen. In einer ersten Zeit altes Testament - wird ein Mann von einer Frau vorm Fall gerettet. In einer zweiten Zeit - Neues Testament - wird dieselbe Frau von einem anderen Mann vorm Fall gerettet. Aber dies ist nicht mehr als ein roter Faden durch ein kompliziertes Labyrinth, nichts, worauf sich der Film reduzieren ließe. Delon erscheint zwar tatsächlich doppelt in der „ersten Zeit“ als Teddy Lennox, ein alternder, tiefbetrübter Beau, der von „ihr“ gerettet und ertränkt wird, in der „zweiten Zeit“ als Teddys Bruder Robert, ein Managertyp, der „sie“ ins Wasser zieht (das sind ja die beiden traditionellen Seiten des Delon-Bilds, der Schöne und der Kalte). Aber er erscheint nicht öfter als „sie“. Oder als die Besitzerin des herrschaftlichen Anwesens, als der Gärtner, die Schiller rezitierende Serviererin, das philosophierende Küchenpersonal, die Akkordeonmusik, das Herbstlaub, die Wolken, die Spiegelungen im Wasser.

So wie sich einst die Musik von der Sprache löste und die Kunst von den Gegenständen, lösen sich bei Godard die Elemente des Films - Ton, Kamera, Sprache, Musik - von der Fiktion, der sie der Konvention nach dienen. In Nouvelle Vague scheint diese Loslösung vollzogen, Film setzt sich darin so absolut, daß der Autor sich auch aus dem Vorspann streichen kann. Dabei ist Godard inzwischen der wohl virtuoseste Techniker. Perfektere Aufnahmen von Landschaften und Autos, Portraits und Interieurs waren während des ganzen Festivals nicht zu sehen. Nouvelle Vague ist wie ein Mosaik, das durcheinandergebracht wurde und in dem darum erst der Blick auf die unvergleichlich funkelnden und scharf geschnittenen einzelnen Steine frei wird.

Thierry Chervel