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Von „oben“ kommt nun nichts mehr

■ Am Wochenende gründete sich in der Charite die erste Arbeitsgruppe des Ostberliner „Gesamttreffens von Selbsthilfegruppen und Initiativen“ / Unterstützung kam auch von SEKIS (West) und der Gruppe „Dick & Dünn“ / Erste Anlaufstation: das „Telefon des Vertrauens“

Berlin-Mitte. Das Westberliner Selbsthilfeprojekt „Dick & Dünn“ für Frauen mit Eßstörungen ist in letzter Zeit durch den zusätzlichen Zulauf von Hilfesuchenden aus der DDR in eine hoffnungslos überlastete Situation geraten. Dabei war der Bedarf nach Hilfe bei Eßstörungenen schon immer größer, als es die Kapazität des Projekts zuließ - nicht umsonst forderten die „Dick & Dünn„-Mitarbeiterinnen vom Senat eine professionelle Beratungsstelle. Diese brisante Situation bei „Dick & Dünn“ war nun der Auslöser für eine Initiative zur Bildung von Selbsthilfegruppen in der DDR. Bisher wurden hier Eßgestörte allenfalls in lebensgefährdenden Fällen in psychiatrische Stationen eingewiesen. Spezielle Therapieeinrichtungen oder gar Selbsthilfegruppen existierten sowohl für dieses Problem als auch für andere Themen kaum. Initiatorinnen waren die Medienprofessorin Gisela Ehle, die an der Charite in der Klinik für Neurologie und Psychiatrie arbeitet und dort auch Eßgestörte behandelt, und die Westberliner Selbsthilfe-, Kontakt- und Informationsstelle „Sekis“.

Am vergangenen Samstag trafen sich nun erstmalig an der Bildung von Selbsthilfegruppen Interessierte und Mitglieder von bereits bestehenden Gruppen zu einem ersten Kennenlernen und Erfahrungsaustausch. Der Stoßseufzer einer Ostberlinerin: „Mein Gott, was habe ich in Berlin herumtelefoniert, um Kontakt zu kriegen!“ zeigt, wie Überfällig ein solches Treffen für die Betroffenen in der DDR war. Außer der um sich wütenden Manie von Partei- und Bündnisgründungen hat es selbst zum Erstaunen der Anwesenden ebenfalls viele Gründungen von Selbsthilfegruppen gegeben. Zu den schon seit Jahren mit Hilfe der „Inneren Mission“ der Kirche bestehenden Gruppe „Eltern helfen Eltern von geschädigten Kindern“ und einigen Gruppen für Alkoholkranke sind inzwischen viele neue Initiativen wie Pilze aus dem Boden geschossen. So gibt es nun sowohl in Berlin als auch in Potsdam Verbände von „Frauen für Frauen“, eine „Rheumaliga“, Gruppen für „Integration von straffällig Gewordenen und Ausländern“, für „lern- und verhaltensgestörte Kinder“, „Dialysepatienten“, „arbeitslose Behinderte“ und vieles andere mehr. Das Themenspektrum reicht von chronischen Krankheiten, Schuppenflechte, Drogensucht bis zu sozialen Problemen - wie die für DDR -BürgerInnen bisher weitestgehend unbekannte Arbeitslosigkeit.

Außer dem Kennenlernen sollte es jedoch wichtigstes Ziel dieses „Gesamttreffens von Selbsthilfegruppen und Initiativen in Ost-Berlin“ sein, zur Bildung einer Arbeitsgruppe zu gelangen, die Perspektiven zur Unterstützung der Selbsthilfegruppen in Ost-Berlin diskutiert und plant. Das heißt also eine ähnliche Institution zu schaffen, wie „Sekis“ in West-Berlin. Deutlich wurde bei der Diskussion um dieses Problem und um die Gründung von Selbsthilfegruppen in der DDR schlechthin, daß viele der DDR-Bürger noch zu sehr in der Mentalität früherer Zeiten leben und auf Anweisung und Hilfe von „oben“ warten. Doch wie wenig man sich jetzt schon und auch in Zukunft darauf verlassen kann, zeigt die verzweifelte Suche von Selbsthilfegruppen nach Räumen. „Wir müssen lernen, uns unserer eigenen Bedürfnisse stärker bewußt zu werden und sie dann konsequent in eine Selbsthilfegruppe umsetzen“, war der Tenor. Doch wie schwer das ist, zeigte der Versuch, am Ende zu der angestrebten koordinierenden Arbeitsgruppe zu kommen. Zum Teil herrschte bei einigen doch die Meinung vor, warum man denn „das Fahrrad unbedingt noch einmal neu erfinden“ wolle, wenn es doch in West-Berlin bereits solch eine Institution wie „Sekis“ gebe und man „ja sowieso bald wieder eine Stadt“ sei. Letztendlich einigte man sich aber doch auf eine eigene Arbeitsgruppe. Die vorläufige Vermittlung von Informationen wird das Ostberliner „Telefon des Vertrauens“ übernehmen, wo sich jeder Interessierte nach Möglichkeiten der Mitarbeit oder auch nach bereits existierenden Selbsthilfegruppen erkundigen kann. Es ist täglich von 12 bis 24 Uhr unter 437 70 02 zu erreichen.

Markstein

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