Septemberspuren

■ Ein Buch über die Folterpolitik in der Türkei zehn Jahre nach dem Militärputsch

Für einen Schülerstreich verschwindet der 15jährige Merih monatelang in den Folterkellern der politischen Polizei. Er wird als „Verbrecher gegen den Staat“ verfolgt, weil er winzigklein - Hammer und Sichel an die Klassentür gekritzelt hat. - Die 18jährige Sängerin Gülten gerät wegen nie bewiesener „terroristischer Umtriebe“ ihrer Familie ins Visier der Polizei. In der Untersuchungshaft vergewaltigt sie ein Polizist. - Der Journalist Mehmet Özgen, in den 70er Jahren presserechtlich Verantwortlicher einer linken Zeitschrift, wird wegen seiner Artikel zu 143 Jahren Gefängnis verurteilt. - Neugierig pirscht sich der 14jährige Istanbuler Straßenjunge Özcan an die die 1.-Mai -Demonstration des Jahres 1989 heran. Er bekommt zwei Polizeischüsse ins Bein und wird anschließend ins Gefängnis gesteckt.

Alltagsgeschichten aus der Türkei, zehn Jahre nach dem Militärputsch vom 12.September 1980, aus einem Land, in dem fast jede Familie Folteropfer zu beklagen hat: Der taz -Korrespondent Ömer Erzeren hat sie in seinem Buch Septemberspuren aufgeschrieben. Auf 153 Seiten berichtet er von „Menschen, die der Folter widerstanden“ und von solchen, die sie anwenden.

Die Folter ist kein Einzelfall, kein Ausrutscher unbeherrschter Brutalos - ein perfides System steckt dahinter. Ömer Erzeren zitiert eine Grundregel, die jedem Polizisten mit auf den (Dienst-) Weg gegeben wird: „Wenn der Angeklagte nicht die Wahrheit sagt, wird er der Folter zugeführt und erneut befragt.“ Schon in der Ausbildung lernen die Uniformierten die schwachen Stellen des menschlichen Körpers kennen. Später unterweisen erfahrene Kollegen sie in den wirksamsten Foltertechniken, solche, die keine nachweisbaren Spuren hinterlassen.

Von höchster Stelle werden die Täter protegiert. Das, obwohl eine Regierung aus Zivilisten längst wieder die Macht übernommen und 1983 offiziell die „Rückkehr zur Demokratie“ propagiert hat. Selbst das Amt des Staatspräsidenten haben die Militärs abgegeben. International gebärdet sich die türkische Regierung ausgesprochen liberal - ohne mit der Wimper zu zucken, unterzeichnete sie sogar die Anti-Folter -Konvention der UNO und des Europarates. Und unermüdlich antichambriert sie bei der EG, um ihre Mitgliedschaft zu erlangen und ihren Respekt vor den Menschenrechten zu beteuern.

Septemberspuren enthält Berichte über Menschen, die trotz aller Erniedrigungen den aufrechten Gang wahrten, über solche, die ihre Gesundheit oder das Leben verloren und über ganze Familien, deren Alltag sich veränderte, weil einer der ihren eingekerkert wurde. Schilderungen von Folter und Mord, die detaillierte technische Grausamkeitsbeschreibung, sind notwendiger Bestandteil, aber nicht Thema des Buches. Vielmehr geht es um die strukturellen Veränderungen in einer Gesellschaft, für die staatliche Repression zum Regelfall geworden ist.

Auch über die Täter wird gesprochen. In einem langen Interview erklärt einer, der nach eigener Einschätzung mindestens 200 Menschen von Berufs wegen mißhandelt hat, wie er Polizist wurde, wer ihm die Schwachstellen des menschlichen Körpers erläuterte und warum der Ausstieg, den er inzwischen geschafft hat, so schwierig ist: „Jeder hat Angst vor dem anderen.“

Dorothea Hahn

Ömer Erzeren, Septemberspuren, rororo Aktuell, 153 Seiten, April 1990, 9,80 DM