Die Alternative Liste und die Koalitionsfrage

Im rot-grünen Senat von West-Berlin geht der Frust um / Teile der AL wollen die Koalition mit der SPD im Sommer beenden  ■  Von Kordula Doerfler

Berlin (taz) - Es könnte doch alles so schön sein: Am Dienstag vergangener Woche überreichte die AL-Fraktion in West-Berlin dem Regierenden Bürgermeister Walter Momper (SPD) einen Wanderkelch Rot-Grün, aus Anlaß der überstandenen 425 Tage rot-grüner Koalition in Berlin. Damit ist das ehemalige hessische Bündnis überflügelt, denn die Koalition aus Grünen und Sozis platzte dort am 425. Tag. Die kleine Feier im Schöneberger Rathaus konnte jedoch kaum darüber hinwegtäuschen, daß die Lage in der rot-grünen Koalition in West-Berlin, die unter dem Prädikat „Jahrhundertchance“ angetreten war, angespannter ist als je zuvor. Der Begriff „Koalitionskrise“ ist seit dem Amtsamtritt vor gut einem Jahr so häufig verwendet worden, daß er JournalistInnen wie BewohnerInnen der Stadt nur noch ein müdes „schon wieder?“ hervorlockt. Im Senat wurde zu allen Sachthemen erbittert gestritten, von der Stromtrasse über den Streik in den Kindertagesstätten bis zu der Inbetriebnahme des umstrittenen Forschungsreaktors am Hahn -Meitner-Instititut und der Ansiedlung von Daimler-Benz am Potsdamer Platz. Im Senat werden Entscheidungen notfalls auf Druck des Regierendenden Bürgermeisters per Abstimmung herbeigeführt, die AL-Senatorinnen im Zweifelsfalle überstimmt.

In der Alternativen Liste gärt die Koalitionsfrage derzeit heftiger als zuvor: Vor zwei Monaten hatten kurz hintereinander prominente Mitglieder des Abgeordnetenhauses verschiedene Ämter zurückgegeben - darunter war auch eine der Gallionsfiguren von Rot-Grün, die ehemalige Fraktionsvorsitzende Heidi Bischoff-Pflanz. Nach deren Rücktritt wurde beschlossen, in verschiedenen Arbeitsgruppen die Koalitionsvereinbarungen, die nach Ansicht der AL durch den Fall der Mauer und die neue stadtpolitische Situation in vielen Punkten überholt sind, nachzubessern. Die SPD hatte von vornherein signalisiert, keine neuen Koalitionsverhandlungen aufzunehmen. Die Vorschläge der Arbeitsgruppen liegen mittlerweile vor, die Debatte darüber wird jedoch erst auf einer Mitgliedervollversammlung Mitte Juni stattfinden, auf der die leidige Koalitionsfrage auf der Tagesordnung steht. Bis dahin will man der SPD die Papiere vorgestellt haben. Auf einer Mitgliedervollversammlung am vergangenen Freitag wurde die Koalitionsfrage wieder einmal verschoben, obwohl der Unmut und die Resignation nicht mehr nur in der Basis vorherrscht, sondern auch Teile der Fraktion sowie des Parteivorstandes befallen haben.

Für die Koalitions-VV im Juni liegen seit ein paar Tagen verschiedene Anträge von prominenten ALern vor, die vehement für einen Ausstieg aus der Koalition plädieren. In den Anträgen beklagen sie sich über die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit in originären AL-Politikfeldern und den rüden Führungsstil des Regierenden Bürgermeisters. Bis zu Neuwahlen, darin sind sich die AntragstellerInnen einig, soll die SPD in einem Minderheitssenat toleriert werden. „Die AL geht wieder in die Opposition“, so lautet der Wunsch vieler Mitglieder. Gemeinsam mit den Bürgerbewegungen im Ostteil der Stadt will man eine breite links-alternative Opposition organisieren. Setzt sich diese Vorstellung in der Partei durch, dann stehen die Chancen für Rot-Grün in Groß -Berlin schlecht, obwohl ein solches Bündnis rechnerisch bei Gesamtberliner Wahlen eine Mehrheit bekommen könnte.

Umstritten ist in der Partei auch, ob man dem ungeliebten Bundesverband der Grünen beitreten soll. Da davon auszugehen ist, daß die Berliner sich am 2. Dezember zum ersten Mal an Bundestagswahlen beteiligen dürfen, wäre ein solcher Schritt notwendig, um über die Fünf-Prozent-Hürde zu kommen. In der VV am Freitag wurde darüber nur ein Meinungsbild hergestellt; die Tendenz geht dahin, die Entscheidung solange wie möglich hinauszuzögern - in der Hoffnung, daß bei gesamtdeutschen Wahlen ohnehin eine Neuorganisation der Grün-Alternativen stattfinden muß.