Menschen ohne Zukunft und Heimweh

■ Warum Banater, Rumänen und Roma, Männer, Frauen und Kinder sich 36 Stunden lang in den Zug setzen, um nach Ost-Berlin zu kommen, wie sie sich in den Kasernen fühlen, und wie sie sich die Zukunft vorstellen - hier einige Lebensläufe

Gemeinsam haben die rumänischen Staatsbürger auf dem Bahnhof Lichtenberg und in den beiden Ostberliner Kasernen Biesdorf und Hessenwinkel nur eines: die Gewissheit, daß sich in Rumänien nichts bessern wird. Ansonsten sind sie aus den unterschiedlichsten Gründen hier. Die DDR-Bürger werden in der Phase des Umbruchs mit für sie bisher Fremdem konfrontiert - Erfahrungen, die ihnen ihre Regierung allerdings gleich wieder ersparen will, in dem am letzten Freitag die Grenzen für Rumänen faktisch geschlossen wurden.

Ein Banater hatte es geahnt: Vor einigen Tagen hat er sich mit seinem siebzehnjährigen Sohn in den Zug gesetzt: „Wenn wir jetzt nicht nach Berlin fahren, dann fahren wir nie mehr nach Berlin. Ich war mir sicher, daß sie die Grenze zumachen als ich im rumänischen Fernsehen gesehen habe, wie die Leute auf dem Bahnhof übernachten.“ Dennoch sagt er, daß dieses Lager hier „nicht zu beschreiben ist. Die Rumänen sind alle sehr, sehr froh. Sie hätten alle nie geglaubt, daß sie so gut verpflegt werden.“ Allerdings erzählt er auch, daß man auf dem Bahnhof Lichtenberg in der Nacht zuvor Ammoniak verschüttet hätten. Schlafen konnte dort dann niemand mehr. In einigen Tagen will der von der Arbeit in Uran- und Kohlegruben schwerkranke fünfzigjährige Frührentner wieder zurück. Aber seinem Sohn hatte er das alles hier noch zeigen wollen. „Das ist ja unsere Kultur hier.“

Anwohner in Biesdorf wissen jeden Tag neue Räuberpistolen zu erzählen: In der Nacht von Freitag auf Samstag sei ein Volksarmist aus dem zweiten Stock aus dem Fenster geworfen worden. Den Kollegen der NVA ist von solchen Vorfällen nichts bekannt.

Daß die Grenze jetzt zu ist, findet ein Elektromeister, Mitte dreißig, der drei Kinder zu Hause hat und ziemlich schniecke angezogen ist, sehr problematisch. Er hat eine große Tour durch die Tschechslowakei und Ungarn gemacht und ist her gekommen, um zu sehen, wie die Leute hier in Berlin leben. Für diejenigen, die in Rumänien zurückgeblieben sind, wäre es jetzt nicht mehr möglich zu sehen, wie andere Menschen in anderen Ländern leben. Er selbst will nur in Berlin bleiben, wenn er hier innerhalb des nächsten Monats eine Arbeit findet - müßte ja nicht unbedingt in der Elektrobranche sein, er könnte jede Arbeit machen. Wenn er keine findet, fährt er wieder zurück, denn in einem Monat ist sein Urlaub zu Ende, und sein Arbeitsplatz in Rumänien wäre dann auch weg.

Die Versorgungsstruktur in Hessenwinkel ist ziemlich ausgeklügelt, erzählt ein „Versorgungsinspektor“, obwohl es sich jetzt ja eigentlich „ausinspektort“ und die ehemalige planwirtschaftliche „Feuerwehr des Handels“ jetzt ausgedient hätte. Das Frühstück machen die Grenztruppen. Die bringen auch das Mittagessen, währen die abendliche „Beutelverpflegung“ von der Konsum-Bauarbeiterversorgung übernommen wird. Die Aufgabe des Versorgungsinspektor ist es seit Freitag, sich um „Industriewaren“ zu kümmern, nämlich um „hygienische Papiere“ und „Damenhygiene“. Damit sich die Leute orientieren können, hat er an das Lagergebäude eine rote Fahne gehängt.

Weil seine deutschen Freunde auf der Schicht sind und ihn nicht abholen können, übernachtet ein Banater auf dem Bahnhof Lichtenberg. Er ist mit dem Zug um 17 Uhr angekommen. Seine Freunde, die er für eine Woche besuchen will, wohnen außerhalb von Berlin und arbeiten bis spät in die Nacht. Sich mit U- und S-Bahn durchzuschlagen ist ihm zu kompliziert, und das wenige Geld, das er hat, will er nicht für ein Taxi ausgeben. So wartet er eben auf dem Bahnhof bis er am nächsten Morgen abgeholt wird. „Das ist doch alles kein Problem.“

Ein Roma wußte bisher nichts von Berlin. In Rumänien hatte er Lkws mit Hilfslieferungen aus Deutschland gesehen. Da kam er her, weil er dachte, hier würde man ihm helfen. Noch sind seine kranke Frau und seine sieben Kinder zu Hause. Aber er hofft, Arbeit auf dem Bau zu finden und will seine Familie dann nachkommen lassen. Jetzt hat er Angst um sie.

Eine ältere Frau mit zwei Kindern ist nach Ost-Berlin geflohen - vor ihrem Mann, der sie geschlagen hat. Vor einer Woche ist sie angekommen. Bekannte, die in der DDR waren, haben ihr erzählt, daß die Deutschen gutmütige und anständige Leute seien. Sie fegt den Flur und wischt den Fußboden im Waschraum. „Ich bin noch nie so respektiert worden wie hier. Auch in der Turnhalle in Lichtenberg. Ich würde gerne arbeiten gehen und mit meinen Kindern woanders wohnen - wenn es nicht geht, bleibe ich erst mal hier.“ Einmal war sie in West-Berlin, „aber ich bin nirgendwo reingegangen, habe mir alles nur angeschaut.“ Eine Schule hat sie nicht besucht, sie kann nicht lesen und schreiben, würde jede Arbeit annehmen. Und wenn es keine Arbeit gibt? „Ich weiß nicht, ich will auf keinen Fall zurück.“ Der zwölfjährige Sohn war in der Schule, die vierjährige Tochter dafür noch zu klein. Er vermißt die Schulkameraden. 500 Lei betrug die Miete für ihre kleine Wohnung, viel für rumänische Verhältnisse. Das Leben war „schlecht, es gab nichts zu essen, erst nach der Revolution ist es etwas besser geworden.“ Hat sie Heimweh? „Nein, überhaupt nicht. So gut haben wir nie gelebt, als daß wir Sehnsucht nach Rumänien hätten.“ Von Feindseligkeiten der Deutschen weiß sie nichts.

„Hier kannst du sogar die Polizisten nach dem Weg fragen“, sagt ein Rumäne, seit neun Tagen in der Biesdorfer Kaserne.

Die Deutschen sehen sich selbst etwas anders. Der diensthabende Arzt, am Morgen aus einer Poliklinik abkommandiert, analysiert den Gemütszustand seiner Landsleute. „Für die sind die Rumänen doch das Letzte alles Schmarotzer. Für mich natürlich nicht. Ich kann die doch nicht als Untermenschen ansehen, bloß weil sie ein bißchen verrotzter aussehen.“ Im übrigen sei das hier alles schlecht organisiert, „überhaupt keine Stabsplanung“.

In der Kleiderkammer stapeln sich die Säcke. Alles Spenden aus der Bevölkerung, „aber vieles so verdreckt, daß man es nicht brauchen kann“, sagt der Arzt. Zwei Teenager, Schülerinnen aus Ost-Berlin helfen beim Sortieren und Austeilen. Ihre Mutter arbeitet bei der Paß- und Meldestelle als „Ausländeroffizier“, sagt die eine. Seit zwei Tagen registriert sie die Rumänen in Hessenwinkel. Die Tochter ist mitgekommen, um ein „bißchen zu helfen, aber jetzt bin ich halt den ganzen Tag geblieben“. In der Hand hält sie einen Kleidersack, auf dem Arm trägt sie seit Stunden das Kind einer Roma durch die Gegend, „total süß, die Kleine“. Daß so viele Rumänen in die DDR kommen, findet sie „blöd“, weil sie auf der Straße angemacht würde. Die sollten zu Hause bleiben. Morgen kommt sie wieder, nach der Schule, „weil ich die Kinder mag“.

anb/grr