Der Antisemitismus ist das Problem der Antisemiten

Aber: Ungeschoren dürfen sie nicht bleiben  ■ K U R Z E S S A Y

Nun schmieren sie wieder, schlagen Gräber kaputt, vergehen sich an Leichen. Im Osten gehen sie schon weiter. Plündern jüdische Häuser, schlagen auch mal einen Juden tot, was die Behörden dann „einen kriminellen Akt ohne antisemitischen Hintergrund“ nennen. Eine Welle des Judenhasses rollt über Europa, und Juden wie Nichtjuden stehen dem neualten Phänomen ratlos gegenüber. Warum jetzt? Warum so? Warum überhaupt?

Eine mögliche Antwort wäre: Wann immer gewachsene Verhältnisse ins Wanken geraten, in Zeiten politischen und sozialen Umbruchs also, sind Juden dran. Das ist eine Erfahrung, die sich in der Geschichte immer wieder wiederholt. So war es, als die Kreuzfahrer gegen Osten aufbrachen, so war es, als es mit dem Feudalismus abwärts ging, so war es in der Schlußphase des Kaiser- und des Zarenreichs. Ein Wandel der Zeiten war für Juden immer mit Gefahren verbunden, viel bedrohlicher als für den Rest der Bevölkerung. Allerdings, warum das immer so war, warum Christen, Revolutionäre und Reaktionäre sich erst mal an Juden austobten, bevor sie sich auf den Weg machten, auf diese Frage gibt es keine verläßliche, überzeugende Antwort. Es war so, weil es immer so war.

Es ist unmöglich, sich dem Antisemitismus rational, wie der Frage nach den Ursachen schlechten Wetters oder der Inflation, zu nähern. Sämtliche Ansätze zu einer Erklärung scheitern an der Grundfrage: Warum die Juden? Was macht ausgerechnet sie zu den ewigen Opfern?

Empirische Sozialforscher und jüdische Intellektuelle versuchten es mit einer Reihe von Modellen, die aber alle nichts taugen, weil auch ihr Gegenteil immer zutrifft. Zudem wird versucht, den Antisemitismus mit dem Verhalten der Juden zu erklären. Gläubige Israeliten, die sich vom Rest der Gesellschaft separieren, heißt es, waren erkennbar „anders“ und zogen deswegen den Haß der Mehrheit auf sich. So war es in weiten Teilen Polens. Aber in Deutschland und in Frankreich war es genau umgekehrt. Hier war die Mehrheit der Juden völlig angepaßt, von ihren nichtjüdischen Nachbarn nicht zu unterscheiden. Alfred Dreyfus war zuerst Franzose und danach, wenn überhaupt, Jude. Und Walter Rathenau wurde nicht deswegen ermordet, weil er etwa den Schabbat hielt oder in einem Kaftan herumlief. Er war ein guter Deutscher, der sich um sein Vaterland sorgte, und genau das wurde ihm zum Verhängnis. Ob die Juden nun den Kapitalismus oder den Kommunismus förderten, ob sie Freidenker oder Gläubige waren, ob sie national fühlten oder internationalistisch agitierten, sie wurden immer dafür geschlagen, was sie jeweils waren und was sie gerade taten - und auch für das Gegenteil.

Der ewige Antisemit, sei er nun französischer Patriot, deutscher Reformer, polnischer Bauer oder russischer Nationalist, spricht von Kapitalisten, Kommunisten, volksfremden Elementen, Ausbeutern und Parasiten. Aber er meint immer: die Juden. Reiche Juden sind eine Provokation, arme eine soziale Last. Linke Juden bringen rechte Antisemiten in Rage, rechte Juden treiben den Blutdruck linker Antisemiten in die Höhe. Bleiben die Juden unter sich, verhalten sie sich verdächtig. Nehmen sie an sozialem und kulturellem Leben teil, wirken sie zersetzend. Auch Juden fällt es schwer, das kleine Einmaleins des Antisemitismus zu begreifen. Es lautet: Antisemitismus hat nichts mit dem Verhalten von Juden zu tun, der Antisemit haßt den jüdischen Nobelpreisträger genauso wie den jüdischen Bordellbesitzer. Selbst tote Juden sind vor seinem Zorn nicht sicher. Antisemitismus hat nichts mit der Anzahl der Juden zu tun, es gibt ihn in Ländern, die „judenrein“ sind, ebenso wie in Gesellschaften mit einer relevanten jüdischen Bevölkerung. Antisemitismus hat nichts mit Juden an sich zu tun. Wo es keine gibt, werden welche geschaffen. Antisemitismus ist das Problem der Antisemiten, nicht der Juden.

Das ist natürlich leichter gesagt als eingesehen, solange die Antisemiten hinter Juden her sind, statt sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen. Der Antisemitismus ist auch keine „abgeleitete“ Anomalie, nicht das Produkt einer Störung wie Alkoholismus oder Magersucht, es handelt sich um den Ausdruck eines vitalen Bedürfnisses mit einer langen Tradition. „Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden“, heißt es bei Sartre. Von Sartre stammt auch die einfachste und beste Definition von Antisemitismus: „Er ist gleichzeitig eine Leidenschaft und eine Weltanschauung.“ Damit lassen sich die verschiedenen Formen und Verkleidungen des Antisemitismus erklären. Der Antisemit aus Leidenschaft will einen Juden totschlagen oder wenigstens ein jüdisches Grab demolieren. Der Antisemit aus Weltanschauung glaubt an die jüdische Weltverschwörung - oder auch daran, daß Israel liquidiert werden muß, damit der Dritte Weltkrieg verhindert wird. Anfang der achtziger Jahre war die letzte Spielart des Antisemitismus, der Antizionismus, en vogue. Seine Protagonisten wollten freilich um keinen Preis als Antisemiten gelten, obwohl sie in ihrem politischen Repertoire kein antisemitisches Klischee ausließen. Inzwischen spielt der Antizionismus als Weltanschauung kaum noch eine Rolle, er ist out, obwohl es selten mehr gute Gründe gab, Israels Politik zu kritisieren, als heute. Der Zusammenbruch des Sozialismus, verbunden mit der Annäherung der Ostblockstaaten an Israel, hat dem Antizionismus als Weltanschauung den Boden entzogen. Der staatlich geförderte Antisemitismus hat sich zurückgezogen und damit das Feld für private Initiativen frei gemacht, anstelle einer Weltanschauung werden wieder Leidenschaften gepflegt. Woraus nur geschlossen werden kann: Es gibt ein freischwebendes antisemitisches Potential, das sich je nach Zeit und Umfeld verschieden artikuliert. Der Antisemitismus unterliegt, wie alle sozialen Phänomene, Moden, im Moment ist wieder mal die klassische Form des Judenhasses angesagt.

Damit stellt sich die unvermeidliche Frage: Was kann man tun? Im Prinzip nichts. Gegen eine Leidenschaft oder eine Weltanschauung gibt es kein Heilmittel, es ist, als wollte man Neid oder Eifersucht mit gutem Zureden kurieren. Gesetzliche Initiativen sind völlig sinnlos, man kann niemand ein Gefühl verbieten. Ebenso sinnlos sind Bemühungen um Aufklärung, etwa von der Art, wie sie von Juden besonders gerne unternommen werden: wieviele jüdische Denker, Erfinder und Künstler gab es, wie wichtig der „jüdische Beitrag“ zur deutschen/österreichischen/polnischen ... Kultur war. Gerade das wird den Juden nicht gutgeschrieben, sondern übelgenommen. Die Aufzählung der jüdischen Geistesgrößen widerlegt nicht, sondern bestätigt antisemitische Ressentiments, die Ängste vor der Allmacht und Allgegenwart der Juden.

Soll man also nichts tun, jammern und warten, was sich die Antisemiten als nächstes einfallen lassen? Nicht unbedingt. Als vor Jahren eine Gruppe amerikanischer Neonazis ausgerechnet durch das von Juden bewohnte Skokie bei Chicago marschieren wollte, wurden die Braunhemden von ein paar jüngeren Juden gewarnt: sie sollten ruhig kommen, sie müßten nur damit rechnen, daß sie den Ort nicht unversehrt wieder verlassen würden. Die Juden waren keine feinsinnigen Intellektuellen a la Woody Allen oder Alain Finkielkraut. Es waren kräftige Jungs mit Nahkampferfahrung. Die Botschaft wurde verstanden. Kein Neonazi ließ sich in Skokie blicken.

Henryk M. Broder 17. 5. 90, Jerusale