Für ein grausames Kino

■ Gestern abend gingen in Cannes die 43. Internationalen Filmfestspiele zu Ende

Cannes 1990: Präsentiert haben sich viele Filme aus Osteuropa - Tresorfilme und neue -, wenige Filme aus der Dritten Welt, viele Filme von europäischen Klassikern des Autorenkinos, und David Lynchs „Wild at heart“. Die einzige Überraschung des Festivals: Pavel Lungins „Taxi Blues“, ein sowjetischer Debutfilm, hart, direkt und unwiderstehlich. Anstelle eines Resumees ein kleines Pamphlet, ein paar Sätze von Pavel Lungin und ein Portrait seines engagierten Produzenten, dem man Nachahmer in Deutschland wünscht.

Sex, Gewalt, Tod - der verschwiegene Fluchtpunkt allen Kinos ist Hardcore. Im Festivalpalais ist er in den Keller gelegt, unter den Meeresspiegel, wo der Markt stattfindet und offen mit diesen Lust- und Angstversprechen gehandelt wird. Aber alles Kino mißt sich daran. Es muß sich ein Bildnis und damit schon deutlich machen, daß es uralte Verbote überschreitet. Also muß es seinen Blick dahin aufschlagen Sex, Tod, Gewalt - und das kann es nur, wenn es grausam genug ist, gewisse Rücksichten zu brechen. Ohne die Geste der willkürlichen, lustvollen und blasphemischen Zerstörung ist es verloren. Darum kann man die Sex- und Gewaltbilder den abgeschossenen Kopf, die abgerissene Hand im Maul des Hundes, die sich aufrichtende Brustwarze unter der Hand des Verabscheuten, das Erbrochene auf dem Teppich, den Krankenhausmülleimer - in Lynchs Wild at Heart nicht anders als verdienstvoll nennen. Sie haben uns an etwas erinnert.

Ebensogut könnte man allerdings sagen: für ein zärtliches Kino. Für die Kunst macht das, anders als fürs Leben, keinen Unterschied. In Bertrand Taverniers Wettbewerbsfilm Daddy Nostalgie gibt es einen Abschied. Vater und Tochter gehen aufeinander zu. Beide wissen, daß sie sich zum letzten Mal sehen. Der Vater ist todkrank. Aber sie geben sich keinen Kuß, sie sind verlegen. Ist der Blick auf diese Umarmung, die nicht stattfindet, grausam oder zärtlich? In Godards Nouvelle vague sieht man Alain Delon als stoppelbärtiges, alterndes, trauriges Jungengesicht. „Qu'est -ce que tu fais?“ (Was machst du da?), wird er gefragt. Er antwortet: „Je fais pitie“ (ich errege Mitleid). Ist Godards Blick auf Delon grausam oder zärtlich? In Pavel Lungins Taxi Blues ist der Taxifahrer Schlykow ein brutaler Spießer mit zurückgekämmtem, pomadisiertem Haar. Aber er verstrickt sich in eine heftige Beziehung mit Liocha, dem Künstler. Er lebt in einer antisemitischen Umgebung, aber er nimmt den Juden Liocha bei sich auf. Er ist irritiert von Liocha, und er will ihn zum Sklaven machen. Als Liocha von einer triumphalen USA-Reise zurückkehrt und Schlykow links liegen läßt, führt dieser sich auf wie ein rasender, verlassener Liebhaber. Ist Lungins Blick auf diesen Enttäuschten grausam oder zärtlich?

Im chinesischen Wettbewerbsfilm Ju dou von Zhang Yimou, der in einem Bergdorf im China der 20er Jahre spielt, schlägt ein sehr alter Färbermeister seine sehr junge Frau. Sie tut sich mit seinem Neffen zusammen. Daß ihr Kind von ihm ist, können die beiden nicht zugeben - sie würden aus der Dorfgemeinschaft verstoßen. Eine nicht zu lebende, tragische Liebe. Das Kind ist unheimlich. Erst ertrinkt der falsche Vater in einer roten Färberlauge, dann der richtige, und das Kind sieht lachend zu. Das ganze passiert in einer hinreißend schönen Umgebung, inmitten von leuchtend gelben, roten, blauen, rosa, grünen und orangefarbenen Stoffbahnen. Ist Zhang Yimous Blick auf diese Familienhölle grausam oder zärtlich? In Fellinis La voce della luna (Die Stimme des Mondes) wird Fellinis Alter ego, ein eben pensionierter Beamter, von lauernden, beflissenen Greisen heimgesucht, die ihn pflegen und hegen und mit Kamilletee versorgen wollen und die er wütend von sich weist. Ist Fellinis Blick auf sich und das Alter grausam oder zärtlich?

Es gibt keinen Unterschied. Worauf es ankommt, ist die Genauigkeit, die heikle Balance zwischen Nähe und Distanz, Aktivität und Passivität gegenüber dem Objekt.

Dennoch ist „Zärtlichkeit“ - in der Kunst - der schlechtere Begriff, denn im Begriff der Zärtlichkeit liegt die Implikation der Genauigkeit nicht so auf der Hand wie in dem der Grausamkeit. Zärtlichkeit wird leicht verwechselt.

Clint Eastwood zum Beispiel, der in Frankreich vergötterte, verwechselt Zärtlichkeit mit ungenauer Selbsverliebtheit. Clint Eastwood ist eben nicht der John Huston, der African Queen dreht (und den Eastwood in seinem Film spielt), als der er sich in seinem Wettbewerbsbeitrag White Hunter, Black Heart darstellen möchte. Ungenau: mangelnde Distanz und mangelnde Nähe zu sich selbst. Höchst unangenehm die Stiliseriung Hustons und damit seiner selbst zum Freund aller Juden, Schwarzen und Elefanten. Axel Corti verwechselt Zärtlichkeit in seinem 18.-Jahrhundert-Melodram La putain du roi - mit Valeria Golino als Maitresse mit dem bloßen Stöhnen in erotischen Szenen und mit dem bloßen Fuchteln, wenn Leidenschaft angezeigt werden soll. Ungenau: Corti findet die Bilder nicht, die das Bilderverbot überschreiten. Nicht genug Aktivität gegenüber den Schauspielern, nicht genug Passivität - Geduld - gegenüber den Regungen des Ausdrucks, die man ihren Gesichtern vielleicht ablesen könnte.

Andrzej Wajda verwechslt Zärtlichkeit mit Frömmelei. Sein Film Korczak, der außerhalb des Wettbewerbs lief, zeigt den Leiter eines jüdischen Waisenhauses im Warschauer Ghetto, der aufrecht in den Tod geht, und seinen Zöglingen Mut macht, es ihm gleichzutun. An einer „surrealistischen“ Stelle des Films blinkt über dem Haupt eines der Waisenkinder ein Heiligenschein auf. Ungenau: Die Juden werden auch dadurch nicht gerettet, daß Wajda sie ins katholische Himmelreich aufnimmt. Gerard Depardieu verwechselt in Cyrano de Bergerac (Jean-Paul Rappenau) Zärtlichkeit mit Gerard Depardieu, wie er immer schon war, schwer atmend, sich aufpumpend wie ein Maikäfer. Giuseppe Tornatore verwechselt in Stanno tutti bene wie schon in seinem letzten Film Nuovo Cinema Paradiso Zärtlichkeit mit soßiger Sentimentalität. Marcello Mastroianni spielt in diesem Film den freundlichen und geschwätzigen sizilianischen Großvater, der in die großen Städte des „continento“ reist, um seine fünf Kinder zu besuchen. Die Kinder lügen ihm allesamt was vor von beruflichem Erfolg und Familienglück, aus Liebe. Ungenau, denn Mastroianni ist wirklich nur geschwätzig. Ungenau auch: Die „poetischen“ Bilder, die Tornatore sucht, um die Massengesellschaft zu kritisieren - zum Beispiel der Stau vor einem Hirschen, der sich auf die Stadtautobahn verirrt hat - sind mit kaum glaublicher Unverschämtheit bei Fellini geklaut. Tornatore mag sie als Hommage an den Meister verkaufen. Aber auch das ist ungenau, in Stanno tutti bene sind sie nur Applikationen am Fernsehfilm.

Ungenau darf ein Film nicht sein. Sonst fühlt man sich daran erinnert, daß man im Kino sitzt. Ein Film muß zielen und treffen. Zärtlichkeit ist nicht Rücksichtnahme. In Wild at heart hat sich Diane Ladd als Marietta Fortune das ganze Gesicht mit Lippenstift zugeschmiert. Rot, gemein, fettglänzend, 20 Meter breit in Cinemascope starrt es von der Leinwand. In Taxi Blues trinkt Liocha eine Flasche Kölnischwasser leer, Schluck um Schluck, vor Ekel grimassierend. In Nouvelle Vague sitzt eine geradezu schockierend schöne, langhaarige Blonde, eine Loreley, auf einem sehr eleganten Sportbus und kehrt den Blick nach innen. Zwei Meter neben ihr ertrinkt Alain Delon.

Es heißt, daß man ins Kino geht, um das Leben zu vergessen, das eigene und das draußen. Aber wenn man erst mal im dunklen Saal sitzt, muß man das Kino vergessen, damit es ans Leben erinnert. Darum: für ein grausames Kino.

Thierry Chervel