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Kurdisches Dorf unter Anklage

155 Dorfbewohner aus Cizre wegen Separatismus vor Gericht / Öffentlichkeit ist ausgeschlossen  ■  Aus Diyarbakir Lissy Schmidt

155 Bürger der kurdischen Kreisstadt Cizre (Türkei) stehen zur Zeit vor dem Staatssicherheitsgericht von Diyarbakir. Sie sind angeklagt, den Volksaufstand in der Stadt an der türkisch-syrischen Grenze im März (s. taz vom 28.4.) verursacht und vorangetrieben zu haben.

Den 155 Angeklagten, von denen sich 74 in Haft befinden, wird vorgeworfen, in der Zeit vom 20. bis 23. März 1990 gegen das Versammlungsgesetz verstoßen und staatliches Eigentum mutwillig beschädigt zu haben. Zwei weitere Anklagepunkte sind Widerstand gegen die Staatsgewalt und separatistische Propaganda. All diese strafbaren Handlungen sollen gemäß der Anklageschrift auf Geheiß der verbotenen Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) begangen worden sein.

Zu Beginn des Prozesses am Montag schloß der Richter nach Feststellung der Personalien und Verlesung der Anklageschrift die Öffentlichkeit und die Presse aus, was er mit der Gegenwart eines 14jährigen unter den Angeklagten begründete. Danach forderte der Staatsanwalt für jeden der Angeklagten in allen vier Begehen eine Gefängnisstrafe von zehn bis fünfzehn Jahren. Die zwanzig Anwälte, die bei ihrer Verteidigung eine gemeinsame Strategie verfolgen, fordern Freispruch für die Angeklagten. In ihren Plädoyers versuchen die Anwälte nachzuweisen, daß es sich bei dem Aufstand in der Kreisstadt um Notwehr gegen die Übergriffe der Sicherheitskräfte gehandelt habe und um ein legitimes Aufbegehren gegen eine jahrzehntelange Repressionspolitik der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung.

Der „Cizre„-Prozeß unterscheidet sich insofern von allen anderen zahlreichen Massenprozessen, die seit dem Militärputsch 1980 vor dem Kriegsgericht oder seinem „Nachfolger“, dem Staatssicherheitsgericht, in Diyarbakir stattgefunden haben, insofern als daß zum ersten Mal nicht Vorwürfe wie Mitgliedschaft oder Unterstützung einer illegalen Organisation Gegenstand der Anklage sind. Es ist außerdem der erste Massenprozeß gegen Kurden seit der Verschärfung des Ausnahmezustandes am 9. April, als das Höchststrafmaß für „separatistische Aktivitäten“ verdoppelt wurde. Ungefähr die Hälfte der Angeklagten sind Analphabeten, viele beherrschen die türkische Sprache nicht, so daß das Gericht gezwungen ist die Verhandlung mit Dolmetschern zu führen. Ein Paradoxum, da die Existenz der kurdischen Sprache von den offiziellen türkischen Stellen immer noch nicht anerkannt ist.

Von so gut wie allen Angeklagten liegen Aussagen vor, in denen sie eine Teilnahme an den Aktionen zugeben. Diese Aussagen stammen allerdings alle von den ersten Verhören aus den Tagen direkt nach der Festnahme. Vor Gericht erklärten die Angeklagten jedoch einhellig, daß diese Aussagen nicht von ihnen, sondern von den Polizeibeamten verfaßt worden seien und daß sie gezwungen worden seien, zu unterschreiben.

Nach Angaben des Rechtsanwaltes Orhan Dogan aus Cizre, „wird das Gericht versuchen, den Massenprozeß so schnell und reibungslos als möglich über die Bühne zu bekommen, um die Akte Cizre endgültig schließen zu können.“ Dogan beschwert sich auch über die angeblich mangelnde Solidarität von seiten türkischer Kollegen: „In einem Verfahren wie das gegen die Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Kutlu und Sargin stehen Hunderte von Anwälten bereit. Diese Menschen hier, die zum großen Teil nicht lesen und schreiben können und die Sprache des Gerichts nicht beherrschen, sind noch mehr auf die Solidarität der demokratischen Öffentlichkeit und der fortschrittlichen Anwälte angewiesen.“

Auch der „Cizre-Prozeß“ ist Opfer der weitgehenden Zensurbeschlüsse gegen die türkische Presse geworden. Trotz der Dimension des Verfahrens und trotz der Schlagzeilen, die die „Intifada“ selbst gemacht hatte, waren nach dem ersten Sitzungstag gar keine oder nur spärliche Meldungen in der Presse zu lesen.

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