Ein Leben gegen den „Schandparagraphen“

■ Die Ärztin Else Kienle war in der Weimarer Republik vehemente Gegnerin des §218 / Neuauflage ihres Gefängnis-Tagebuches

Der Widerstand gegen den Paragraph 218 existiert nicht erst seit der Selbstbezichtigungskampagne in den frühen 70er Jahren. Bereits in der Weimarer Republik kämpfte die Ärztin und Frauenrechtlerin Else Kienle (1900 bis 1970) neben anderen vehement gegen den „Armen- und Schandparagraphen“, der seit 1871 im Strafgesetzbuch verankert ist. In ihrer Stuttgarter Praxis führte Kienle Schwangerschaftsabbrüche durch; in einer von ihr aufgebauten Sexualberatungsstelle unterrichtete sie ihre Patientinnen in Empfängnisverhütung. Die Ärztin geriet schließlich gemeinsam mit ihrem Mitstreiter Friedrich Wolf in Haft - angeklagt, in „200 Fällen gewerbsmäßig die Frucht durch Abtreibung getötet zu haben“. Ihr Tagebuch, das sie während der Untersuchungshaft im Februar und März 1931 schrieb, wurde Ende 1989 im Schmetterling Verlag, Stuttgart, neuaufgelegt. In ihm klagt Kienle das herrschende Gesetz als Männerrecht an und deckt die Interessen der AbtreibungsgegnerInnen auf.

Etliche Schicksale - keine „Fälle“, wie sie in Form von Karteikarten vor dem Untersuchungsrichter liegen - werden eindrücklich beschrieben. Reiche und arme, verheiratete und unverheiratete Frauen unterschiedlicher sozialer Herkunft haben der Ärztin ihe Lebens- und Leidensgeschichte erzählt. Diese Frauen, häufig „am eigenen Mann zugrunde gegangen“, sind resigniert, verbittert, ängstlich, verzweifelt, aber auch wütend, stolz und trotzig. Ihre Geschichten haben eines gemeinsam: die ungewollte Schwangerschaft - „Krankheit dieser Zeit“.

Kienles Handlungsspielraum als Ärztin im Kampf gegen den Paragraphen 218 ist allerdings beschränkt: Die medizinische Indikation ermöglichte ÄrztInnen seit der unbedeutenden Reform des §218 im Jahr 1926 nämlich den legalen Abbruch nur aus gesundheitlichen Erwägungen für die Mutter. Ansonsten wurde Abtreibung mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft.

In ihrem Tagebuch beklagt die junge Ärztin, die sich berufen fühlt, „die Sache der Frau“ vor den Richtern zu verteidigen, daß Männer immer noch allein über Gesetz und Ordnung zu entscheiden haben: „Kann ein Mann überhaupt über die Dinge urteilen, die hier zur Vernehmung kommen?“ Sie geht aber auch mit der Ärzteschaft ins Gericht. Der ärztliche, „schwere, schöne, schreckliche Beruf“ verlange Solidarität mit den Patientinnen, nicht Standesdünkel und Hochmut. Dieser Solidarität würden jedoch durch das Gesetz eindeutige Schranken gesetzt.

Else Kienle problematisiert aber auch ihre eigene bürgerliche Herkunft und ihren sozialen Status als Medizinerin, als Hindernis für eine uneingeschränkte Solidarität mit ihren Patientinnen, die häufig aus dem proletarischen Milieu stammten. Ihr Kampf gegen den Abtreibungsparagraph jedoch ist kompromißlos. Thema des Tagebuchs ist denn auch die damalige Diskussion um den § 218 in der Weimarer Republik. Ihr Tagebuch endet mit einem Forderungskatalog, in dem neben dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen und der freien Abtreibung als Grundrecht auch soziale Verbesserungen und Sexualaufklärung verlangt werden.

Interessant für die heutige Bewegung gegen den § 218 ist Kienles Standpunkt deshalb, weil sie als eine der wenigen damals nicht ausschließlich soziale Gründe für die Abschaffung des Paragraphen anführt. Sie bringt das Selbstbestimmungsrecht der Frauen als wichtigste Forderung ins Spiel. Hier greift die Frauenrechtlerin den Forderungen der 70er Jahre vor. Allerdings unterliegt die Ärztin auch zeitgenössischem Gedankengut. So klingen bei ihr neomalthusianische Ideen an, wenn sie die Welt vor der drohenden Überbevölkerung gerettet sehen will.

Else Kienle ist heute leider bei vielen in Vergessenheit geraten. Im Nachwort von Maja Riepl-Schmidt gibt es noch einige biographische Hinweise auf das Leben Kienles, die sie als Typ „neue Frau“ in der Weimarer Republik beschreiben: mit ausladenden Hüten, mit einer Vorliebe für schnelle Autos und für wechselnde Ehemänner. In einer demnächst erscheinenden Abschlußdokumentation über ein Frauenstadtgeschichte-Projekt in Stuttgart, hat Maja Riepl -Schmidt ein ganzes Kapitel der Ärztin gewidmet, „der so lebendig agierenden Frau, die aufmüpfige Rebellin gegen Spießertum und Kleinkariertheit“.

Ursula Siebert

Else Kienle, Frauen - Aus dem Tagebuch einer Ärztin, Stuttg. '89, Schmetterling Verl.