Wie normal sind die Verrückten?

Blutbad von Rishon Le Zion, Grabschändung in Carpentras - Abwehrfunktion einer Täterdiagnose  ■ G A S T K O M M E N T A R

Als im französischen Carpentras der jüdische Friedhof geschändet wurde, da wurden die Täter zwar nicht gefaßt, aber schnell identifiziert: Kranke, Verrückte, Wahnsinnige.

Als ein 21 Jahre alter Israeli sieben Palästinenser erschoß und 15 verwundete, da stand, noch bevor sein Name von der Polizei bekanntgegeben wurde, fest, daß es ein Kranker, ein Verrückter, ein Wahnsinniger war, der die Tat begangen hatte.

Auf den ersten Blick klingen solche Täter-Analysen überzeugend. Kein gesunder, normaler, vernünftiger Mensch geht auf einen Friedhof, zerschlägt Grabsteine und gräbt Leichen aus. Und kein gesunder, normaler, vernünftiger Mensch nimmt ein Gewehr und schießt in eine Gruppe von Menschen, weil er grade Liebeskummer hat und seine Freundin erschrecken möchte. Nur lassen Erklärungen, die auf den Geisteszustand der Täter zielen, eine wichtige Frage unbeantwortet: warum sie sich die Opfer ausgesucht haben, die sie sich ausgesucht haben. Warum also haben die Vandalen von Carpentras sich ausgerechnet einen jüdischen Friedhof vorgenommen? Konnte es nicht auch ein katholischer sein? Warum hat der amoklaufende junge Israeli Palästinenser als Zielscheiben gewählt, warum nicht eine Gruppe von jüdischen Israelis, die, sagen wir, so unschuldig an einer Bushaltestelle warteten wie die Palästinenser an der Einfahrt zu Rishon Le Zion? Nicht, daß die Schändung eines katholischen Friedhofs weniger verwerflich und die Ermordung von jüdischen Israelis weniger anstößig wäre, die Frage ist nur warum mußte es ein jüdischer Friedhof sein, warum mußten es Palästinenser sein? Um die Antwort auf diese Frage drücken sich alle, die mit so großer Gewißheit behaupten, es seien - hier wie dort - Verrückte am Werk gewesen.

Im Falle von Carpentras ist die Antwort einfach. Es macht keinen Sinn, christliche Friedhöfe zu verwüsten, es gibt auch kein Motiv. Nur bei Juden reicht der Haß der Täter über den Zeitpunkt des Ablebens ihrer Opfer hinaus, können nicht mal tote Juden in Ruhe gelassen werden. Die Verwüstung jüdischer Friedhöfe zeigt die Totalität des Judenhasses, ist Antisemitismus in letzter Konsequenz. Danach gibt es nichts mehr. Und im Falle des Israeli, der so ruhig und gelassen ein Massaker anstellte, liegen die Dinge ähnlich. Er mag ein „Kranker“, ein „Wahnsinniger“ in dem Sinne sein, daß sein Verhalten von dem der „Gesunden“, der „Normalen“ abweicht. Aber nur insoweit, als dieser Kranke etwas getan hat, was die Gesunden zu tun sich nicht trauen. Die Tat entsetzt, weil sie, wie bei den Vandalen von Carpentras, der letzte Schritt ist, den zu gehen den Gesunden und Normalen ihre Hemmungen verbieten.

Der nette Massenmörder von Rishon le Zion muß vor dem Hintergrund betrachtet werden, aus dem er plötzlich ins große Ramenplicht trat. Was hat ihn dazu gebracht, seinen Frust an den Palästinensern auszutoben? Es war sicher ein ganzes Bündel von Ursachen, einige können beim Namen genannt werden. Da ist zum Beispiel der Rabbiner Moshe Levinger aus Hebron, ein führender Kopf der Siedler, die, um die Ankunft des Messias zu beschleunigen, die besetzten Gebiete bevölkern wollen. Levinger wurde kürzlich wegen fahrlässiger Tötung eines Arabers zu fünf Monaten Haft verurteilt. Während des Prozesses sagte er. „Ich habe bisher noch nicht das Privileg gehabt, einen Araber umbringen zu dürfen.“ Und der Boden des Heiligen Landes tat sich unter seinen Füßen nicht auf. Als er, begleitet von einer Schar seiner Anhänger, im Gefängnis zum Strafantritt ankam, wurde er vom Direktor der Anstalt auf das freundlichste mit Händedruck am Tor begrüßt und gleich in ein Krankenhaus überwiesen, obwohl er bis dahin keine Zeichen körperlicher Schwäche zeigte. Da ist zum Beispiel das ständige Gerede von der Notwendigkeit eines „Transfers“ der Einwohner der besetzten Gebiete wie auch der israelischen Araber in die benachbarten Staaten, eine Idee, die noch vor drei, vier Jahren völlig indiskutabel war und heute von Liberalen vor allem deswegen abgelehnt wird, weil sie „nicht durchführbar“ ist. Da ist zum Beispiel eine Umfrage unter israelischen Oberschülern, die sich mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen haben, den israelischen Arabern - Bürgern und Steuernzahlern des Staates Israel also - das Wahlrecht zu verweigern und die auf die Frage, was ihnen zu dem Wort „Palästinenser“ einfällt, antworteten: „Verbrecher, Primitive, Mörder.“ Niemand hat bis dato Rabbi Levinger einen „Verrückten“, die Transfer-Anhänger „krank“ und die Oberschüler „Wahnsinnige“ genannt. Sie alle sind völlig gesund und normal.

Was heißt: Jedes Volk hat nicht nur die Regierung, es hat auch die Verrückten, die es verdient.

Henryk M. Broder, Jerusalem