Ein Haus in Montevideo

■ Trotz konservativer Moral oder gerade deswegen sind die uruguayischen Stundenhotels ein Industriezweig mit florierender Konjunktur

Gaby Weber EIN HAUS IN MONTEVIDEO

Trotz konservativer Moral oder gerade deswegen sind die uruguayischen Stundenhotels ein Industriezweig mit florierender Konjunktur.

Zweitausend Meter vor dem Regierungspalast biege ich vom Artigas-Boulevard rechts in die kleine Seitenstraße Federico Rodrigo. Ich fahre durch ein Wohngebiet mit flachen Einfamilienhäusern und Gärtchen. Schräg gegenüber der Kreuzung Catala-Straße stoße ich auf eine große Toreinfahrt. Von außen läßt nichts darauf schließen, daß sich hinter den hohen Mauern etwas Verbotenes verbirgt. Zwei Palmen rahmen ein kleines Pförtnerhäuschen ein, und rechts davon weist ein Pfeil den Autofahrern die Fahrtrichtung.

Der Pförtner ist ein kräftiger junger Mann. Er merkt sofort, daß mit mir etwas nicht in Ordnung ist, denn ich schlage zwar mit meinem Käfer die vorgeschriebene Richtung ein, aber ich parke mitten im Hof und nicht in den nummerierten Garagen. Und außerdem: Eine Frau am Steuer, eine Gringa, und dazu noch alleine? „Senora, was wünschen Sie?“ fragt er wenig einladend. „Ihr Chef erwartet mich“, gebe ich zurück.

Der Chef erwartet mich in seinem Büro: Jaime Gelabert, Mitbesitzer des Familienbetriebes Monyui und seit 15 Jahren Geschäftsführer. Das kleine Land zwischen Brasilien und Argentinien galt Anfang des Jahrhunderts als Geheimtip für Auswanderungswillige. Die Familie Gelabert war aus Mallorca eingewandert, und 1935, da war Sohn Jaime gerade vier Jahre alt, hängte sein Vater die Bäckerei an den Nagel und gründete die Firma Monyui, ein Stundenhotel - benannt nach dem Montjuich, einem Berg und gleichnamigen Schloß in Barcelona. Monyui - das klingt aber auch, so Gelabert, wie das französische „ma joie“, „meine Fröhlichkeit“, eine durchaus passende Bezeichnung für ein Freudenhaus.

Stundenhotels sind in Südamerika ein soziales Phänomen, mit Prostitution wie in Europa haben sie wenig gemein. Sie dienen als Liebesnest für außereheliche Beziehungen oder für Paare, die wegen der herrschenden Wohnungsnot kein Plätzchen haben, wo sie ungestört beisammen sein können. Stundenhotels gibt es in allen Ländern und Preislagen, vom Billigangebot für das Pennäler-Taschengeld bis hin zur Luxussuite mit Wasserbett. In Kuba werden sie vom Staat verwaltet, und lange Schlangen zeugen von hohem Andrang. In Chile sind sie supermodern mit allen elektronischen Schikanen ausgestattet. Und in Brasilien sind sie trotz Aids rund um die Uhr ausgebucht.

In der Anderthalb-Millionen-Stadt Montevideo gibt es insgesamt 23 Hotels, die mit amtlicher Genehmigung Zimmer ohne Vorlage des Ausweises vermieten dürfen. Zu ihnen gesellen sich die Motels am Stadtrand, die im Verwaltungsbezirk der Nachbarprovinz Canelones liegen und ebenfalls im Metier tätig sein dürfen, sowie die unzähligen privaten Wohnungen, Schuppen und Absteigen, die gegen ein paar Pesos eine Schlafstatt überlassen.

Monyui ist eines der „Hotels mit hoher Rotation“ - wie es im Amtsspanischen heißt. Unter dieser Rubrik werden sie im örtlichen Branchenverzeichnis geführt und in den Wochenendausgaben der Tageszeitungen angepriesen. Im Volksmund heißen sie schlicht „Casa de Cita“, zu deutsch: Haus des Stelldicheins. Monyui richtet sich an den gehobenen Mittelstand, die exklusivste „Casa de Cita“ Montevideos verrät Gelabert ohne Konkurrenzgebaren - sei das GOES, dessen Zimmer nach historischen Vorbildern gebaut wurden, da sei zum Beispiel das Gemach der „Königin von Turin“, das Liebesnest im Kolonialstil, und der Raum mit der Märchen -Atmosphäre von „Tausendundeiner Nacht“. Das GOES sei auch das einzige Etablissement, das von den Nachkommen italienischer Emigranten geführt werde, die übrigen seien fest in der Hand der Einwanderer aus Mallorca. Allen Einrichtungen, verrät der Monyui-Chef, seien zwei Dinge heilig: Diskretion und Hygiene.

Wenn ein Kunde in den Hof fährt, weist ihm der Pförtner das gewünschte Zimmer zu, er fährt mit seinem Auto in die Garage, zieht hinter sich das Rolltor herunter und geht über die Treppe im hinteren Teil hoch bis in einen kleinen Vorraum. Von dort aus führt eine Tür ins Liebesnest, eine andere in den Hotelflur. Wenn er gehen will, bestellt er über Telefon die Rechnung. Dann kommt der Kellner mit der Aufstellung, nimmt das Geld entgegen, und der Gast zieht sich zurück.

Im Monyui kann der Kunde unter 22 Zimmern das Ambiente wählen, nach dem ihm gerade der Sinn steht: Das schlicht möblierte Zimmer kostet pro Stunde umgerechnet etwa acht Mark. Die größeren Räume sind für zehn Mark zu haben, und für die Suite müssen schon fünfzehn auf den Tisch des Hauses gelegt werden. Obwohl in Montevideo das Thermometer nie unter null Grad fällt, haben alle Zimmer Zentralheizung und im Sommer Klimaanlage. Im Preis inbegriffen sind ein Stückchen Seife, ein sauberes Händehandtuch und frische Laken für das Doppelbett. Wer allerdings duschen will, muß ein Badehandtuch bezahlen.

Natürlich erlaubt mir der Chef einen Rundgang, es ist erst 11 Uhr, da ist im Monyui noch nicht viel los. Beim Etagenkellner vergewissert er sich, welche Zimmer frei sind. Von einem langen Flur gehen rechts und links numerierte Türen ab. Der Gang ist gekachelt, und ein junger Mann wischt gerade den Boden. Auf Tischen zwischen den Türen stapeln sich Handtücher und Bettlaken, und unter dem Tisch liegen zusammengeknüllt große Haufen mit benutzter Wäsche.

Gelabert öffnet eine numerierte Tür und betritt einen kleinen Vorraum, von dem rechts eine Treppe hinunter in die Garage führt; geradeaus steht eine zweite Tür offen, diesmal ohne Nummer. Wir befinden uns in einem Zimmer der niedrigen Preisstufe, klärt mich der Monyui-Chef auf. Der Raum ist freundlich möbliert, und im Hintergrund plätschert klassische Musik. In der Mitte prangt ein großes Doppelbett, davor ein Farbfernseher, über den man sich in die hauseigene Videoanlage einschalten könne. Was für Filme hier gezeigt werden? Ausschließlich Pornos, deren Lautstärke mit Fernsteuerung vom Bett aus zu regeln sei. Stolz des Hauses sind die Aquarien in den besseren Zimmern, dort sorgen Rundbett, Lichtspiele und riesige Spiegel für sinnliche Atmosphäre. Dann geht es weiter zu den drei Suiten. Eine ist ganz im Stil eines Weinkellers gehalten, mit Fässern und Weinregalen und abblendbarem Licht. Eine andere kann mit einem Whirlpool aufwarten, und im Wohnzimmer vermittelt ein großer Kamin biedere Gemütlichkeit, die Holzscheite flimmern elektrisch. Das Bad mit einem Spiegel in Herzform ist rundum gekachelt und hat vergoldete Wasserhähne.

Die Minibar hat die übliche Ausstattung eines besseren Hotels: Coca-Cola, Bier, Wein und Sekt. Der französische Champagner muß beim Etagenkellner bestellt werden. An Eßbarem bietet der Eisschrank nur Erdnüsse und Kekse an. „Die Leute kommen nicht zum Essen hierher“, meint der Hotelier lakonisch.

Ob es die berühmten Seitensprünge des Abteilungsleiters mit seiner Sekretärin in der Mittagspause seien, die sein Geschäft beleben? Über seine Klientel mag er nicht reden: „Mich interessiert nicht, wer kommt, sondern daß er kommt.“ An Arbeitstagen benutzen vor allem die Berufstätigen seine Herberge für Seitensprünge, die „Stoßzeiten“ seien zwischen 12 und 15 Uhr sowie zwischen 17 und 20 Uhr, also während der Mittagspause und nach Büroschluß. Am Wochenende und an Feiertagen kommen eher junge Leute, Pärchen, die noch keine eigene Wohnung haben. Freitag und Samstag nacht sei im Monyui „die Hölle los“. Die 23 männlichen Angestellten machen Akkordarbeit.

Gewiß, die Branche lebe von der Doppelmoral einer konservativen Gesellschaft, räumt der Monyui-Chef ein. Doch er sei nicht Wächter über die Tugend anderer. Die einzige sittliche Grenze sei die Homosexualität. Zwei Männern werde der Einlaß verwehrt. Aber was passiere, wenn ein Mann mit zwei Frauen an die Pforte klopfe? „Manchmal kommen sie zu dritt, das Gesetz verbietet nur die Anwesenheit von zwei Männern, aber es erlaubt, daß ein Mann mit zwei Frauen kommt. Und wenn er tüchtig ist, kann er auch mit dreien kommen.“

Sein Hotel laufe gut, so Gelabert, aber der „große Gewinner ist das Finanzamt“. Er zahle 21 Prozent Mehrwertsteuer, und die Steuerschuld werde vom Finanzamt gemäß der Anzahl der Zimmer und der Kategorie des Etablissements geschätzt. Welche Werbungskosten er habe? Geringe, beruhigt Gelabert, ein paar Anzeigen in Zeitungen, das Wichtigste sei Mund-zu -Mund-Propaganda. Und die Prämien, die man den Taxifahrern pro Paar zahle, habe man dank einer Preisabsprache innerhalb des Berufsverbands niedrig halten können, umgerechnet 20 Pfennig. Die „Kammer der Eigentümer der Hotels mit hoher Rotation“ sei seit 1987 eine eingetragene, juristische Person.

Taxifahrer sind eine unerschöpfliche Informationsquelle. Sie scheinen alles zu wissen, wer mit wem, wann, warum und wohin. Jorge Sanchez ist so einer. Er kennt die Orte, wo die Minister ihre Schäferstündchen verbringen. Er kann auch ihre Begleiterinnen unterscheiden, weiß, wer die Kurtisane ausführt und wer es mit der Prostituierten treibt. Meistens gehen die Politiker aber nicht in die Hotels mit hoher Rotation, sondern mieten sich im Vier-Sterne-Hotel die ganze Nacht ein, man hat ja schließlich seinen Ruf zu verteidigen. Das Monyui werde von Geschäftsleuten frequentiert, die diskrete Gediegenheit schätzen. Von zehn Kunden seien sieben gut gekleidet, zwischen vierzig und fünfzig und hätten am Arm ein sehr junges Mädchen.

Ob sich im Vergleich zu früher bei den Stundenhotels etwas verändert habe? „Das war früher viel versteckter, nicht so offen wie jetzt. Früher hat sich die Frau, als sie zu ihrem Liebhaber ins Taxi stieg, vor dem Fahrer versteckt, sich eine Brille aufgesetzt, die Haare unter einem Kopftuch und das halbe Gesicht unter einem Schal versteckt, oder sie hat sich auf den Rücksitz gelegt. Heute wird gepfiffen, gerufen und gelacht.“ Mit der Heimlichkeit ist auch ein Teil des Machismo verlorengegangen. Heute bestimme sogar oft die Frau, welches Etablissement man aufsuchen wolle. Diese Feministinnen seien ihm ein Greuel, sagt der Kutscher, vor allem diese Gören, die ohne Büstenhalter herumliefen und gleichaltrige Jungs frech in die Stundenhotels abschleppten.

Seine liebsten Kunden sind die Ehepaare, die zu Hause das Schlafzimmer mit den Kindern oder der Schwiegermutter teilen und sich am Wochenende ungestört ausleben wollen. Doch meist wird der eheliche Partner zu Hause gelassen. Nach vielen Ehejahren findet Leidenschaft nur noch außerhalb statt. Sanchez kennt sie, die Hausfrauen, die mit Lockenwicklern und ihren Einkaufstaschen voller Gemüse zu ihrem Liebhaber ins Taxi steigen. „An manchen Tagen finde ich gleich mehrere Eheringe auf dem Rücksitz verstreut.“

Das Polizeipräsidium in der belebten Yi-Straße wirkt mit seinen Marmortreppen und handgeschnitzten Holzportalen imposant. Doch innen bröckelt der Putz, und die Marmorstufen sind heruntergetreten. Die Abteilung „Öffentliche Ordnung“ ist für Diskotheken, Rockkonzerte, Nachtklubs, Schmuggel, Waffenbesitz, Kirchen und das horizontale Gewerbe zuständig und vergibt die Bockscheine. Abteilungsleiter Eduardo Oliveiro schätzt, daß insgesamt maximal 20 Prozent aller weiblichen Personen, die die Hotels mit hoher Rotation besuchen, „Professionelle“ seien. Regelmäßig führe sein Amt Razzien durch, um zu überprüfen, ob sich dort Minderjährige aufhalten. Werden sie fündig, wird die Akte der Kinderschutzbehörde übersandt, die gegen den Ertappten eine Geldstrafe - meist um die sechzig Mark - verhängt. Auf die Frage, was passiere, wenn die Polizisten auf zwei Männer stoßen - ein Straftatbestand laut Monyui-Betreiber Gelabert

-antwortet der Kommissar: „Nichts!“ Homosexualität verstoße zwar gegen die guten Sitten, das Volksempfinden und die Gebote der Kirche, nicht aber gegen das Strafgesetzbuch. Allerdings werden die beiden angetroffenen Männer in die Homosexuellen-Datei aufgenommen.

Früher nahmen an den Razzien auch die Kollegen der politischen Polizei teil, sie suchten nach Tupamaros, den uruguayischen Guerilleros. „Sie haben die Türen eingetreten und die Leute nackt aus dem Zimmer gezerrt“, erinnert sich Taxifahrer Sanchez.

Seit 1968 herrschte praktisch ohne Unterbrechung der Ausnahmezustand, und das Land glich einem Polizeistaat. Zeitungen wurden geschlossen, linke Organisationen verboten, die Gewerkschafts- und die Versammlungsfreiheit eingeschränkt. Wer im Untergrund überleben wollte, mußte eine neue Existenz annehmen, die nächstliegende war die eines bürgerlichen Ehepaares. Nachts wurden neue Aktionen geplant, und tagsüber tauschte die vermeintliche Ehefrau mit der Nachbarin Kochrezepte aus, nachdem der als Ehemann verkleidete Guerillero um 8 Uhr morgens mit einer Aktentasche unterm Arm das Haus verlassen hatte. In den späten Nachmittagsstunden konnte er zurückkehren. Aber wo den Tag verbringen? Anfangs gingen die Illegalen an den Strand oder ins Kino, um die Zeit totzuschlagen. Aber plötzlich waren die Strände und Kinos voller Polizisten. Die Organisation untersagte daraufhin ihren Mitgliedern Strandaufenthalte und Kinobesuche, wie sie vorher bereits die Stundenhotels strikt verboten hatte. Doch nach vielen Monaten Untergrund verstießen viele gegen diese Vorschrift. Auch der Tupamaro Juan Almiratti, der sich heimlich mit seiner Ehefrau im Monyui getroffen hatte. Was dann geschah, schildert Almiratti der taz gegenüber so: „Der Etagenkellner klopfte an und warnte mich vor. Die 'milicos‘ seien im Haus und würden mich belästigen. Ich suchte darauf das Weite, und es kam zu einer Schießerei. Sieben bis acht Häuserblocks weiter schnappten sich mich dann.“

Almiratti verbrachte die Diktatur im Gefängnis. Die Militärs behielten bis 1985 die Macht in ihren Händen. In den zwölf Jahren ihrer Herrschaft ging es zwar wirtschaftlich mit dem Land rapide bergab, doch eine Branche konnte steile Gewinnkurven verzeichnen: die Stundenhotels. Nur der „Villa Belver“, dem einst exklusivsten Freudenhaus am Rio de la Plata, ging es an den Kragen. Sein Pech war, daß es ausgerechnet hinter einem Militärkomplex lag, in dem das Oberkommando des Heeres untergebracht war. Die Generäle fühlten sich durch das gutgehende Etablissement belästigt und schlossen es kurzerhand. In ihrem Dekret beriefen sie sich auf ein Gesetz, wonach Hotels mit hoher Rotation mindestens zwei Häuserblocks von Schulen und Krankenhäusern entfernt sein müssen.

Als sich im März 1976 auch im Nachbarland die Militärs an die Macht geputscht hatten, erlebte die Branche in Montevideo einen neuen Aufschwung. Um es sich nicht mit den Bischöfen zu verderben, hielt die argentinische Junta nicht nur das Verbot der Ehescheidung aufrecht, sondern ging auch mit aller Härte gegen Pornographie und Prostitution vor. Natürlich wurden auch die Stundenhotels als Aufruf zum Ehebruch verketzert. Viele Argentinier trieb es während der Diktatur auf die andere Seite des Rio de la Plata, um mit der Maitresse ein ruhiges Schäferstündchen zu verbringen.

Die Demokratie hat der Konjunktur nicht geschadet. Stundenhotels seien der einzige Industriezweig, glaubt Taxifahrer Sanchez, mit dem es im Lande aufwärts gehe, unabhängig von der Krise - oder vielleicht gerade wegen der Krise.

Auch im Zeitalter von Aids blüht das Geschäft. In Uruguay sind bisher nur wenige Erkrankungen aufgetaucht, der Normalbürger fühlt sich von der Krankheit persönlich nicht betroffen, so der Monyui-Geschäftsführer: „Wenn in der Zeitung etwas über Aids gestanden oder wenn der Gesundheitsminister eine Rede gehalten hat, dann haben wir in den folgenden ein oder zwei Tagen eine erhöhte Nachfrage an Präservativen. Aber das nimmt nach einiger Zeit wieder ab und pendelt sich auf den normalen Durchschnitt ein.“