Gleichgewicht des Schreckens

■ Eine Zölibatsposse aus dem schwäbischen Geistesleben, pünktlich zum Katholikentag

Christian Gampert

Die Kontrahenten kennen sich von früher. Bis vor einem Jahr nämlich lehrten die Professoren Walter Kasper und Harald Schweizer noch gemeinsam katholische Theologie an der Universität Tübingen. Dann trat in ihrem Leben eine Wendung ein: Walter Kasper, der sich als besonders treuer Gefolgsmann Papst Johannes Paul II. erwiesen hatte, wurde zum Bischof von Rottenburg befördert. Und gleich eine seiner ersten Amtshandlungen betraf seinen ehemaligen Kollegen Harald Schweizer: Kasper entzog ihm die „Missio canonica“, die kirchliche Lehrerlaubnis. Denn Schweizer hatte im Juli 1989 die Musiklehrerin Christina Rettich standesamtlich geheiratet. Für den neuen Bischof waren somit ernstzunehmende Zweifel am Lebenswandel des Priester -Professors gegeben.

Nun ist Schweizer nicht der einzige Tübinger Theologe, der in Sünde lebt. Aber während berühmtere Kollegen sich unter die herrschende Doppelmoral der katholischen Kirche ducken, ging Schweizer nach seiner Heirat an die Öffentlichkeit. In einer „Erklärung“ zur amtskirchlich verordneten Enthaltsamkeit der Priester bezeichnet Schweizer den Zölibat etwas doppelsinnig als „Meßlatte“, als ein „autoritäres Testinstrument“, das die Kirchendiener lediglich von oben unter Kontrolle setze. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, daß die Kirchenleitung seine Heirat verwerflich finde, andererseits aber nichts dagegen hatte, daß er und seine Frau „schon ein Jahr in gemeinsamer Wohnung leben. Viele Laien im kirchlichen Dienst bekamen die Jagd auf wilde Ehen zu spüren. Bei Priestern wird umgekehrt verfahren.“ Ihm seien genügend ähnlich gelagerte Fälle bekannt, die vom Bischöflichen Ordinariat geduldet würden.

Das war starker Tobak - beruhigt man sich im katholischen Klerus doch gern mit dem Diktum von den „bedauerlichen Einzelfällen“, die wegen eines „seelischen Defekts“ den Zölibat nicht halten können. Daß ein systematischer Defekt vorliegen könnte, darauf ist man in Rom noch nicht gekommen. Bischof Kasper jedenfalls sah sich ob der Schweizerschen Reflexionen zu einem publizistischen Gegenzug genötigt: Priesterbeziehungen würden keinesfalls toleriert; Schweizers Äußerungen seien diffamierend, verleumdend und „unwahr„; er unterschlage „die geistliche Dimension des Zölibats“ und beleidige die große Mehrzahl der Priester, welche „um des Himmelreiches willen“ sich in Keuschheit übten.

Der Rottenburger Oberhirte (Wahlspruch: „Veritatem in caritate“ - „Wahrheit in Liebe“) müßte es aus eigener Anschauung eigentlich besser wisssen. Denn er selbst ist eng befreundet mit einem Bergsteigerkollegen, dem Tübinger Fundamentaltheologen Max Seckler, welcher seit Jahren ganz offen in einer festen Partnerschaft lebt. Kaspers Weihbischof Josef Kuhnle hat mit Seckler studiert und hält die Heirat des Harald Schweizer für „konsequenter, als was ich sonst so kenne“. Kaspers Amtsvorgänger Georg Moser war nachweislich darüber informiert, daß nicht nur Schweizer, sondern eine ganze Reihe anderer Priester mit Frauen zusammenlebt. Schließlich kann Kasper als vormaligem Mitglied der Tübinger Katholischen Fakultät die Gepflogenheit nicht entgangen sein, die jeweiligen Freundinnen zu Festen und Betriebsausflügen mitzubringen, zum Beispiel zur Rottweiler Fasnet. Auch daß der Kirchengeschichtler Joachim Köhler sich in verläßlicher Lebensgemeinschaft befindet, war an der Fakultät allgemein bekannt. Und der papstkritische Tübinger Medienstar Hans Küng, der letzthin vor allem als Geisterfahrer auf bundesdeutschen Autobahnen von sich reden machte, mußte seine Lebensgefährtin im letzten Oktober sogar als Entlastungszeugin vor Gericht präsentieren; Verkehrssünder Küng wurde trotzdem verurteilt.

Harald Schweizer bot dem Bischof nun brieflich an, seinem Gedächtnis auf die Sprünge zu helfen. „Soll ich Ihnen außerdem zu Papier bringen“, schrieb er seinem Vorgesetzten, „was man sich als 'offenes Geheimnis‘ (mit benennbarer Informationsquelle) landauf, landab von nicht unbekannten Ihrer Bischofskollegen erzählt?“ Kasper wollte dies lieber nicht wissen. Denn nachdem er beim Rottenburger Priestertag ausdrücklich um „Diskretion“ gebeten und bekräftigt hatte, Zölibatsbrecher würden von der Amtskirche nicht geduldet, gingen beim Tübinger 'Schwäbischen Tagblatt‘ zwei Leserbriefe ein: Die beiden mittlerweile mit ihren Ex -Priestern verheirateten Professoren-Gattinnen Ursula Neumann und Astrid Bartholomäus-Greil stellten öffentlich klar, daß sie schon vor ihrer Eheschließung jahrelang und mit Wissen der Diözesanleitung im Konkubinat gelebt hätten. Niemand habe mit Sanktionen gedroht oder das Paar gar aufgefordert, das Verhältnis zu beenden. Frauen wie sie nenne man innerhalb der Kirche nicht „Maitresse“, sondern „Zölibatesse“. Harald Schweizer bezichtigte daraufhin seinen Bischof öffentlich der Lüge: „Sie haben mit der ganzen Autorität des Amtes gelogen.“ Wracks und Nekrophile

Ein Tübinger Vorort, Neubauviertel. An der Haustür steht noch immer „Schweizer einmal, Rettich zweimal klingeln“, wie bei Studenten. Man habe durchaus Konzessionen gemacht, um die Kirche nicht zu sehr in Verlegenheit zu setzen, sagt der Hausherr. Natürlich wußte die Nachbarschaft Bescheid. Aber, kurios, die wirkliche Ausgrenzung beginne erst jetzt, nach der Heirat: Die Professoren-Kollegen schneiden ihn, „als hätte man da einen Schalter umgelegt“. Die Studenten bleiben weg, weil er keine kirchlichen Prüfungen mehr abnehmen darf. Der baden-württembergische Wissenschaftsminister Engler liegt ihm in den Ohren, er möge doch bitte freiwillig die Fakultät wechseln. Trotzdem, findet Harald Schweizer, für ihn persönlich sei das Gröbste vorbei, das schlechte Gewissen, die massiven Ängste. Fünfzehn Jahre nach der Priesterweihe sehe man manches anders: Die bischöflichen „Verweise auf den Bruch des Zölibatsversprechens“ seien nichts anderes als „gewalttätige Moralisierungen von Nekrophilen“.

In seiner ganzen Ausbildung, sagt Schweizer, sei das Thema Sexualität nie angesprochen worden. Sein „Spiritual“ am Tübinger Wilhelmstift habe ihm lediglich empfohlen: „Schauen Sie, daß Sie bis zum Ende des Studiums dieses Problem in den Griff kriegen.“ Dies gelang den wenigsten. Schweizer zählt nach: Rund ein Drittel seines Weihkurses ist bereits des Amtes enthoben. Und wer „durch finanzielle oder innerpsychische Klammern“ im Zölibat gehalten werde, der präsentiere sich meist „als Wrack, nicht als Hoffnungszeichen“. Der ständige Zwang zum Verleugnen und Verdrängen verschlinge ungeheure Energien. Die Linken sind feige

In der Tat ist das Zölibat ja nur ein Aspekt einer rigiden und anachronistischen Sexualmoral, mit der die katholische Kirche bis heute ihre Gläubigen drangsaliert: Sexualität findet ausschließlich in der Ehe statt, und auch dort vorzüglich zum Zwecke der Zeugung. Die durch solch strenge Verbotspolitik massenhaft erzeugten „ekklesiogenen Neurosen“ und Sexualängste können dann in kirchlichen Beratungsstellen kuriert werden. Der Erfolg ist bescheiden. Speziell den Klerikern attestiert der Theologe und Therapeut Eugen Drewermann die Sozialisation von Muttersöhnchen: wenig Eigenleben bei starker Mutterbindung und zwanghafter Kontrolle durch eine totale Institution. Das wirft zum Teil absurde Probleme auf. Fachleute wie Paul Matussek, Leiter der Forschungsstelle für Psychopathologie und Psychotherapie der Münchner Max-Planck-Gesellschaft, beschäftigen sich allen Ernstes mit der Frage: „Handelt es sich bei Liebkosungen einer entblößten Frauenbrust um ein leibliches Zeichen einer noch zölibatären Lebensoffenheit oder schon um den Beginn eines Ausstiegs aus dem Zölibat?“

Der Tübinger Religionspädagoge und Priester Wolfgang Bartholomäus dagegen sieht die Dinge materialistisch: „Wer sich heute für den Zölibat entscheidet, der will seine Beziehungsunfähigkeit kaschieren und dafür auch noch gesellschaftlich belohnt werden.“ Bartholomäus, 56, ehemals Vizepräsident der Universität und Autor des Buches Glut der Begierde, hat nach fünfzehnjähriger Liaison 1988 seine Freundin Astrid Greil geheiratet. Dabei ging es auch um so profane Dinge wie die Altersversorgung der Frau. Aber nicht alle sind auf ihre alten Tage noch so konsequent wie er: Gerade die größten Maulhelden unter den progressiven Theologen scheuen den Gang ans Tageslicht. Sie fürchten nicht nur den Spott der Umgebung, sondern glauben, durch eine Heirat auch ihren Einfluß auf die Amtskirche zu verspielen. Mit ihrer Heimlichtuerei seien sie die besten Stützen des katholischen Gewaltsystems, meint Harald Schweizer: „Bei denen kommt da eine unerwartete Kirchlichkeit hoch.“ Zweiklassengesellschaft

Rund viertausend Priester sind in der Bundesrepublik bereits zölibatshalber aus dem Amt geschieden; weltweit, so schätzt die Bad Nauheimer „Vereinigung katholischer Priester und ihrer Frauen“, gebe es rund 80.000 verheiratete Priester. Das ist ein Fünftel des Weltklerus, dazu kommt noch die weitaus größere Dunkelziffer der „Konkubinaier“.

Die sozialen Folgen unterleibsbedingter Verfehlungen allerdings sind für die einen verheerend, für die anderen eher luxuriös. Denn auch Mutter Kirche hat auf Erden eine Zweiklassengesellschaft etabliert, selbst unter dem eigenen Klerus: Leidtragende sind die kleinen Gemeindepriester. Der naive Dorfpfarrer des Schwarzwaldorts Schönwald, der sich zu intensiv um eine Witwe mit vier Kindern gekümmert hatte, wurde 1986 von der Kirchenleitung kurzerhand laisiert und aus der Priesterversorgungskasse ausgeschlossen. Ein Exempel wird statuiert: Ohne Beruf, ohne Renten-, Kranken- und Sozialversicherung, ohne Anspruch auf Arbeitslosengeld stand er auf der Straße. Der abtrünnige Priesterprofessor dagegen bekommt sein volles Gehalt, er ist ja unkündbarer Landesbeamter. Nur lehren darf er nicht mehr, jedenfalls nichts Katholisches.

Allein an der Thüringer Fakultät haben in den letzten Jahren vier Professoren ihre Missio verloren: Küng wegen Unbotmäßigkeit, Schweizer und Bartholomäus wegen Eheschließung. Der Kirchenrechtler Johannes Neumann gab schon vor seiner Heirat 1977 die Missio von sich aus zurück, weil er „den Sinn“ seines Faches „nicht mehr zu vermitteln“ vermochte.

Nun kann man darüber streiten, ob Theologie überhaupt eine Wissenschaft ist. Neumann hat da einen bemerkenswerten Meinungswandel durchgemacht: „Eine kanonische Glaubenslehre“ wie die katholische „gehört nicht an die Universität.“ Sie genüge nicht „dem wissenschaftlichen Diskurs“. Außerdem sei es nicht sinnvoll, Hochschullehrer „nach ihrem Lebenswandel zu berufen“. Die Kirche aber konnte und kann verlangen, daß die Lehrstühle der schwarzen Schafe mit Vertretern der selbstkasteienden Lebensweise neu besetzt werden. Rechtsgrundlage für dieses Begehren ist das Reichskonkordat, das Adolf Hitler als ideologischen Nichtangriffspakt 1933 mit dem Vatikan abgeschlossen hat. In Unterverträgen (Landeskonkordaten) wird dabei den örtlichen Erzbischöfen die Oberaufsicht über die katholischen Fakultäten der Unis übertragen. Diese Verträge, so rechnete der SPD -Landtagsabgeordnete Gerd Weimer aus, haben das Land Baden -Württemberg in den letzten Jahren sieben Millionen Mark gekostet. Denn nicht nur die neuen Glaubenslehrer, sondern auch die alten müssen bezahlt werden. Für Küng richtete man einen außerplanmäßigen Lehrstuhl für ökumenische Forschung ein. Neumamnn, total säkularisiert, lehrt heute Religionssoziologie, Bartholomäus wurde den Erziehungswissenschaftlern aufgedrängt. Zärtlichkeit, katholisch

Die fürchteten zunächst um ihren Stellenschlüssel und sehen in dem neuen Kollegen auch nicht gerade eine Bereicherung. „Lustfähigkeit als sexualpädagogisches Teilziel schließt orgastische Lust nicht aus“ - naja. „Riskierte Zärtlichkeiten“, „Gottes Zärtlichkeit“, „Wege zur Zärtlichkeit“, „außereheliche Sexualität“ - was im katholischen Kontext progressiv sein mag, wirkt „für weltlich orientierte Leute nicht so aufregend“, so der Sozialpädagoge Hans Thiersch. Man könnte auch sagen: Es ist reichlich verschwiemelt. Was soll Bartholomäus den zukünftigen Schulpädagogen und Jugendhaus-Sozialarbeitern denn auch beibringen? Die wissen aus eigener Lebenserfahrung mehr vom Thema als der zwangsversetzte Gottesmann. Bei Bartholomäus‘ Veranstaltungen handele es sich, so sagt Thiersch salomonisch, um „ein Zusatzangebot“ - auf deutsch: Man hat das zwar nicht gewollt, aber der Mann muß halt irgendwie beschäftigt werden. Gilt das Konkordat?

Auch Harald Schweizer könnte ein solcher Fall von Beschäftigungstherapie werden, denn er soll ebenfalls die katholische Fakultät verlassen. Reiseziel: Neuphilologie oder Judaistik. Aber Schweizer, bisher für Altes und Neues Testament zuständig, ist widerspenstig: Er will partout nicht aufs Abstellgleis. Oder nur unter bestimmten Bedingungen, die ihm eine Neuorientierung erlauben. Die Karten liegen für ihn günstig: Die beiden Bundesverfasungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde und Ernst G. Mahrenholz sowie Verwaltungsrechtler Helmut Quaritsch bescheinigen in juristischen Gutachten, daß weder konkordats - noch verfassungsrechtlich die Entfernung eines mißliebigen Theologen aus der Fakultät vorgesehen sei.

Ob das Hitler-Konkordat für die Universität Tübingen überhaupt Gültigkeit hat, ist nach Ansicht des gelernten Kirchenrechtlers Johannes Neumann sowieso höchst unsicher. Denn für Baden-Württemberg gibt es nur das Badische Konkordat, und da ist immer nur von der Erzdiözese Freiburg die Rede. Rottenburg wird nicht erwähnt, Tübingen schon gar nicht. Ein württembergisches Konkordat existiert nicht. Die Tübinger Fakultät nun per Analogieschluß mit der Freiburger Kaderschmiede gleichzustellen, ist nach Ansicht von Neumann ein unzulässiges Verfahren.

Warum soll der Staat überhaupt der katholischen Kirche die Priesterausbildung finanzieren? Dies fragt sich mittlerweile nicht nur Ex-Priester Neumann, darüber denken auch SPD, FDP und Grüne nach. Gerichtlich will MdL Weimer die Rechtmäßigkeit der Tübinger „Doppelprofessuren“ aus geschaßten und neuverpflichteten Gottesforschern untersucht wissen. Die Grünen im Landtag wollen das Konkordat als Ganzes gekippt sehen. Die FDP empfiehlt der Kirche, die Kosten für ihre „wissenschaftsfremden Ansprüche“ doch bitte selbst zu tragen. Nur: Der konturlose baden-württembergische Wissenschaftsminister Helmut Engler zieht der Kirche gegenüber den Schwanz ein. Lediglich nach dem Missio-Entzug des Wolfgang Bartholomäus fragte er kleinlaut an, ob man die Kosten für die Weiterbeschäftigung des Sexualkundlers nicht mit der Diözese teilen könnte. Bischof Kapser kann da nur müde lachen.

So wird wohl alles beim alten bleiben - wenn sich nicht weitere Priester-Professoren zu mehr Offenheit entschließen und damit die Klärung des Problems auch für Lothar Späths CDU-Regierung immer dringlicher wird. Aber Harald Schweizer hat da wenig Hoffnung: Die linken Theologen seien in dieser Frage wenig konfliktbereit, und von den Papsttreuen sei sowieso nichts zu erwarten. Und so mag denn weiterhin jenes zölibatäre Gleichgewicht des Schreckens herrschen, das der katholischen Kirche soviel Stabilität verleiht: linke und rechte Kirchenmänner wissen sehr viel voneinander - und schweigen fein still. Motto: Haust du mich nicht, hau ich dich auch nicht. Denn keineswegs jeder, lächelt Religionssoziologe Johannes Neumann, ende schließlich wie der konservative Kardinal Jean Danielou, der im Mai 1974 beim Bordellbesuch einem Herzinfarkt erlag. Aber auch der war dort nur „in seelsorgerischem Auftrag“ unterwegs gewesen.