Revolutionäre Roßkur

Die Einführung der Marktwirtschaft in der Sowjetunion  ■ K O M M E N T A R E

Die jetzt angekündigte Wirtschaftsreform, die das erst Ende letzten Jahres verkündete Programm zur Makulatur macht, ist aus der Not geboren. Alle bisherigen Versuche eines weichen schrittweisen Übergangs zur Marktwirtschaft sind gescheitert. Seit 1985 hat sich die Versorgung der Bevölkerung ständig verschlechtert. Die Gutverdienenden leben bescheiden, der Durchschnitt in Armut, die übrigen im Elend. Sieht man von den unmittelbaren Kriegs- und Nachkriegszeiten ab, ist es den Sowjetbürgern materiell noch nie so schlecht gegangen.

Eine Rückkehr zu den behaglicheren Zeiten Breschnews ist jedoch ausgeschlossen. Das damalige System, das auf gigantischer Vergeudung aufbaute und die gegenwärtige Misere herbeiplante, ist nicht mehr restaurierbar. Die Talfahrt hatte schon damals begonnen, die halbherzigen Reformen beschleunigten sie nur. Nun scheint eine Roßkur unausweichlich zu sein. Aber eine kurzfristige Linderung der Not bringt sie nicht. Alles Lebensnotwendige wird noch teurer, die Arbeitslosigkeit wird auf eine zweistellige Millionenzahl anwachsen, das Elend zunehmen. Für soziale Abfederungen aber fehlt das Geld. Das war bekannt und mit ein Grund dafür, die Reform solange hinauszuzögern, bis sie unausweichlich wurde.

Trotz aller sozialen Kosten, ist nicht einmal der Erfolg sicher. Das spurlose Versickern des bundesdeutschen Drei -Milliarden-Kredits von 1988, der eigentlich der Konsumgüterindustrie zugute kommen sollte, verwies nicht nur auf lange anerzogene Verantwortungslosigkeit, sondern auch auf fehlende Kenntnisse. Nun sollen die Unternehmensleiter sich selbst Rohstoffe und Maschinen beschaffen, selbst für den Absatz sorgen und ohne schützendes vorgesetztes Bürokratenhändchen bei Strafe des Untergangs wirtschaftlich kalkulieren. Selbst wenn sie das rasch erlernen sollten, mangelt es an einer funktionsfähigen Infrastruktur. Wegen fehlender Verkehrswege, Depots, Kühlhäuser, Güterwagen usw. werden die Lebensmittel vergammeln, bevor sie den Ladentisch erreichen. Hier zu investieren, kostet jenes Geld, das nicht da ist. Der Markt muß überhaupt erst organisiert werden, und das ist im größten Land der Erde noch schwieriger als in Polen oder der Tschechoslowakei, die von Lastwagen in einigen Stunden durchquert werden können.

Die jetzigen Reformen kommen zu einem Zeitpunkt, da in der Sowjetunion kaum noch jemand das Wort Perestroika anders als höhnisch in den Mund nimmt. Die liberale Opposition sieht Gorbatschow als Exponenten des stalinistischen Parteiflügels; in den nichtrussischen Republiken gilt er fast schon als zweiter Stalin; für die russischen Nationalisten unter den Schriftstellern, im Parteiapparat und der Armee ist er ein Verräter, der das Reich verschenkt; die vor den leeren Läden Schlangestehenden sind sauer. In dieser Situation ist die vorgesehene Volksabstimmung ein geschickter politischer Schachzug. Sie wird der Roßkur die nötige Legitimität verleihen. Die Liberalen können nicht kippen wollen, was sie selbst schon lange forderten. Mit der Unterstützung der gemäßigt Konservativen, wie Ministerpräsident Ryschkow und Planungschef Sljunkow kann Gorbatschow rechnen.

Den geschichtlichen Vergleich, die Revolution von 1917, hat Gorbatschow selbst gezogen und es könnte sich zeigen, das die Einführung der Marktwirtschaft tatsächlich nicht weniger mühsam ist, als ihre Abschaffung. Der sowjetischen Gesellschaft stehen gewalttätige und hungrige Zeiten bevor.

Erhard Stölting