Erzreaktionär, wertkonservativ, grün-subversiv

Katholikentag: Bekenntnis- und Gesellschaftsparteitag  ■ G A S T K O M M E N T A R

Alles, was mich mißtrauisch macht gegen „Glauben“ gab es auf dem Katholikentag: die Flucht aus der Wahrheit in die Sicherheit der Kirche bei Sczipiorski: “... mir fällt es leichter mit Gott, als ohne Gott zu leben“ und “... meine Angst angesichts des Nichts ist riesengroß.“ Die Hoffnung auf Entlastung und Lebenssinn im Glauben treibt Drevermann, den Leitpriester der Kirche von unten: „Es gibt einen großen Durst auf Religion in der Welt!“. Das Irrationale, gemeinschaftliche Erleben und Sich-Erheben bei der Amtskirche wie bei ihren Kritikern ist peinlich. Sie sind sich ähnlicher als sie vorgeben. Das Komplott von Macht und Kirche - gemeinsam dreschen Bischöfe und CDU-Obere Phrasen im Namen Gottes - funktioniert immer noch.

Aber dann die Gläubigen selbst, jung wie alt hauptsächlich Birkenstock-beschuht, problembewußt, ernsthaft und ohne Schwierigkeiten zwischen der Kirche oben und unten hin und herwechselnd auf der Sinnsuche angesichts der großen Verunsicherungen in der Welt. Die Schöpfung bewahren, die Umweltkrise lösen, die Eine Welt in Solidarität mit der 3. Welt herstellen, die Einheit Deutschlands als europäischen, christlichen Neubeginn versuchen und Sozialsysteme neubauen in deren Mittelpunkt Selbsthilfe und Solidarität der Generationen rückt - alles wird ohne ideologische Scheuklappen in stundenlangen, oft sehr spannenden Diskussionsforen erörtert. Die paar Sozialdemokraten argumentieren hilflos, unfähig sich im Denken von ihren Interessenkampf-Schablonen zu lösen.

Die katholische Kirche auf dem Katholikentag im Doppelschritt: sich öffnen zur großen Unruhe, zur gesellschaftlichen Debatte um den Übergang ins nachindustrielle Zeitalter, zugleich aber die Kirche als Institution befestigen und in ihren Strukturen abschotten gegen basisdemokratischen Wandel. Dieser Doppelschritt erzeugt unter den gläubigen Katholiken ein politisches Spannungsfeld mit einer programmatischen Kraft, wie sie im Augenblick keine politische Partei in der Bundesrepublik vorweisen kann. Die Abgeordnete der Grünen, Christa Nickels, auf dem Katholikentag oben und unten ausgebuht und bejubelt, hat den Geist und das Hoffen der Teilnehmer präzise getroffen: „Wenn die totalitären und autoritären Diktaturen in Osteuropa zusammenbrechen, weil die Menschen sich einfach nicht mehr unterordnen wollen, warum soll dann nicht die autoritäre Herrschaft Roms zu Ende gehen können, wenn wir das nur wollen?“ Die katholische Kirche, wie alle alten Institutionen im radikalen Wandel, im Umbruch: der Apparat gegen die Menschen - wer sich am Ende durchsetzt ist offen. Der Katholikentag signalisierte gute Zeiten für große Politik - aber bisher finden sich in allen Parteien eher Politiker, die sich davor fürchten.

Udo Knapp, Bonn

Der Autor ist Mitarbeiter der Bundestagsfraktion Die Grünen.