Nachlese zu einem Streit

Es ist die hohe Kunst der Defensive, mit einem Befreiungsschlag einen Konter einzuleiten. In der deutschlandpolitischen Defensive ist die SPD und Lafontaine hat das Beste daraus gemacht. Die SPD-Fraktion hat da tatsächlich auf ganzer Linie versagt. Als Kohl gegen den Rat der Fachleute, auch gegen den des Sozialdemokraten Pöhl von der Bundesbank, für das Primat der Währungsunion vor allen anderen Vereinigungsschritten entschied, waren das Tempo, der Zeitplan und auch die Art der Ausarbeitung des Staatsvertrages festgelegt. Eine politische Alternative der Sozialdemokratie gab es dazu nicht, nur eine Politik des „sozialen Abfederns“.

Aber das hatte ja auch immer die CDU versprochen. Noch weniger war jetzt daran zu denken, den Zeitplan umzuschmeißen. Das weiß und sagte auch Lafontaine. „Kaum noch verantwortbar“ sei es jetzt, „diesen Prozeß zu stoppen“, meinte er in dem 'Spiegel'-Interview. Die SPD beschränkte sich darauf, die Partei der Nachbesserer zu sein und im übrigen darauf zu warten, daß Kohl Opfer seiner Einigungspolitik wird. Im Prinzip hat sich nach Lafontaines Intervention an dieser Konstellation nichts geändert. Die Punkte seiner sachlichen Kritik am Staatsvertrag sind Thema des Spitzengesprächs zwischen Vogel und Kohl und die CDU hat vorab Kompromißbereitschaft signalisiert.

Bemerkenswerter Erfolg

Was also sind die Gründe für Lafontaines Angriff, für die Brüskierung der SPD-Fraktion, der SPD-Landesfürsten, für die Inszenierung einer Kanzlerkandidatenkrise? Schließlich hat auch er nicht einmal in vagen Andeutungen eine andere Politik des Übergangs, oder gar einen anderen Zeitplan anzubieten.

Das Einzige, was sich in den letzten Wochen qualitativ geändert hat, ist die sozialdemokratische Bundesratsmehrheit, das heißt die Tatsache, daß nun auch die SPD Kohls Politik mit verantworten muß. Und Kohl hatte ja auch prompt aufgehört, die deutsche Einheit weiter als Privatsache zu betreiben, wie es von der SPD-Fraktion routinemäßig vorgeworfen wurde, sondern schwenkte um zu einer Politik des Konsenses. Diese Politik der Einbindung, des nachträglichen Konsenses hat Lafontaine konterkariert. Sein Erfolg ist bemerkenswert und mit ökonomischsten Mitteln, einem bloße 'Spiegel'-Interview, errungen.

Mag die SPD im „Ja, aber...“ zum Staatsvertrag herumwanken. Als Kanzlerkandidat hat er die politische Verantwortung für die schnelle deutsche Einheit Kohl zurückgegeben. Mit seiner Intervention kann er nach dem 2. Juli, wenn das große Aufwachen in der DDR beginnt, je nach Bedarf rechtbehalten. Die Gefahr für ihn, als nachträglicher Kritiker zu erscheinen, ist gebannt. Er hat es geschafft, kurz vor der Währungsunion in die Köpfe der Leute die Frage zu projizieren: „Was will Lafontaine?“

Keine bloße Taktik

Das Ziel war nicht, in der SPD tatsächlich eine wirksame Mehrheit für die Ablehnung des Staatsvertrages zustande zu bringen. Denn so provokativ, wie er alle prominenten Parteipolitiker reihum in Glaubwürdigkeitskrisen stürzte, ist schließlich keine Mehrheit zu erreichen.

Bloße Taktik ist das nicht. Um Wahlkampfargumenten allein mehr Glaubwürdigkeit zu verleihen, hat Lafontaine sicherlich nicht die Partei einer derartigen Zerreißprobe unterwerfen wollen, bei der er auch verlieren konnte. Was der Kandidat mit Leidenschaft betrieben hat, ist nichts mehr aber auch nicht weniger, als das Feld der politischen Auseinandersetzung zurück zu erobern.

Lafontaines wahre Kanzlerkandidatur

Es galt, die Kohlsche Tempo-Macherei hin ins blanke Ja und Nein gegenüber dem Staatsvertrag zu durchbrechen. Genau daran hatte es ja die SPD-Fraktion fehlen lassen, die sich auf das Dauer-Lamento über die mangelnde Beteiligung des Parlaments beschränkte und nicht intervenierte, obwohl in den letzten Monaten alle Etappen der Staatsvertragsentwürfe Stück für Stück an die Öffentlichkeit gelangten. Lafontaine hat die politische Kritik am Wie der Vereinigung in die Politik zurückgebracht. Er konnte das, weil er genauer als seine Parteikollegen erkannte, daß die BRD und DDR eben nicht auf einer nationalen Welle zur Einheit getragen werden. Sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR hat die soziale Frage bei weitem den Vorrang gegenüber der nationalen Frage.

Es gibt sogar hüben und drüben eine schweigende Mehrheit für der Verlangsamung des Vereinigungsprozesses. Diese schweigende Mehrheit wird nach der Währungsunion politisch virulent werden und Lafontaine ist ihr unbestrittener Sprecher - umso mehr, als nicht einmal die Mehrheit der SPD -Politiker auf seiner Seite steht. Sein Streit mit den Genossen war vielmehr seine wahre Kanzlerkandidatur.

Klaus Hartung