„Da kommt interkulturelle Erziehung auf uns zu“

Jürgen Raschert, Professor für Pädagogik an der Freien Universität Berlin, über Bildungspolitik im vereinten Deutschland  ■ I N T E R V I E W

Der Pädagogik-Professor Jürgen Raschert (53) beobachtet seit Monaten intensiv das Schul- und Bildungswesen in der DDR. Erschrocken von der „Paukschule des 19. Jahrhunderts“, möchte er das Überleben einer Schulform der DDR jedoch sichern und, wenn möglich, auch in der Bundesrepublik einführen: das Abitur mit Berufsausbildung, eine von zwei Möglichkeiten der Zulassung zum Hochschulstudium. Raschert ist bildungspolitischer Berater der nordrhein-westfälischen Landesregierung. In diesem Bundesland, das mit dem zukünftigen Land Brandenburg eine Bildungskooperation betreibt, existiert mit der Kolleg-Schule bereits ein ähnliches Modell.

taz: Warum wünschen Sie die Einführung des Modells „Abitur plus Facharbeiterausbildung“ auch in den westdeutschen Bundesländern sowie dessen Beibehaltung in der DDR?

Jürgen Raschert: Weil es vermehrt Schüler geben wird, die von der reinen Buchschule, einer Lern- und sehr intellektualisierten Schule, demotiviert sind. Der Anteil an Schülern, die zu ihrem Abitur das Erlebnis haben möchten, auf eine berufliche Praxis hin orientiert und ausgebildet zu werden, steigt. Die wollen, mit Pestalozzi gesprochen, Kopf -, Herz- und Handarbeit lernen. Als weiterer Punkt kommt die Unsicherheit des akademischen Bereiches hinzu. Das westdeutsche Bildungssystem ist nicht am Bedarf orientiert. Manche fühlen sich daher subjektiv sicherer, wenn sie wissen, daß es neben Abitur und Studium einen Bereich an Facharbeitertätigkeit gibt, in den sie auch hineingehen können. Zudem werden wir in den nächsten Jahren einen Mangel an gut ausgebildeten Facharbeitern haben. Wir kennen die Tendenz aus der Bundesrepublik: Nach dem Abitur lerne ich erst einmal einen Facharbeiterberuf, und dann studiere ich irgendwas.

In der DDR sind die Schulen mit dieser Möglichkeit bislang an die Betriebe angegliedert. Da mutet es doch naiv an, zu glauben, daß sich profitorientierte Privatunternehmen einen solchen Klotz ans Bein binden wollen...

Die Konstruktion Betriebsschule kann nicht aufrechterhalten werden. Es muß eine Institution werden wie die Kolleg -Schulen in Nordrhein-Westfalen - also staatliche Schulen, die eine Berufsausbildung verbinden mit dem Abitur.

Welche Widerstände erfahren Sie von seiten der westdeutschen Bildungspolitik gegen ein solches Modell auch für die BRD?

Der Widerstand kommt aus der gleichen Ecke wie der Widerstand gegen das Abitur an den Kolleg-Schulen: von Bildungspolitikern aus Bayern und Baden-Württemberg, die die Auffassung vertreten, das Abitur müsse „sortenrein“ bleiben, eine zusätzliche Berufsausbildung sei bereits eine Verunglimpfung. Die Leute haben lange gegen die Anerkennung dieses Abiturs gekämpft, sie dann aber doch vollzogen. Das ist eine gute Bedingung für den Bestand dieser DDR -Schulform.

Wie soll diese Übernahme, wenn sie politisch gewollt ist, konkret aussehen?

Man muß genau überlegen, welche Formen von Facharbeiterausbildung sinnvoll mit dem Abitur zu verknüpfen sind - ein Schlosser etwa braucht diesen Abschluß nicht unbedingt. Da kommt es mehr auf die anspruchsvolleren Fächer an, Elektronik oder Informatik beispielsweise. Dann aber muß diese Schulform 14 Jahre dauern, also ein Jahr länger als der normale Weg. Und: Keine Betriebsschulen! Eine Zusammenarbeit mit Betrieben jedoch halte ich für sinnvoll. Da gibt es in NRW gute Erfahrungen.

Das würde bedeuten, daß in der Bundesrepublik eine neue Schulform gegründet werden müßte.

Eine der Kolleg-Schule entsprechende Einrichtung. Den besten der doppel-qualifizierenden Schulen in der DDR sollte man nach der Einheit zumindest einen Versuchsstatus von fünf bis sieben Jahren geben. Dann muß deren Funktionsfähigkeit ausgewertet und geprüft werden, welche Kombinationen sich als sinnvoll erweisen.

Wie immer das zukünftige Bildungssystem aussehen wird: Umsetzen müssen es in den fünf neuen Bundesländern die alten, vom SED-System ausgebildeten und geprägten Lehrer. Ist das überhaupt zu machen?

Die Annäherung wird schwierig werden, denn das grundsätzliche Problem ist die unterschiedliche Kultur im Schul- und Hochschulwesen. Das betrifft den gesamten Geist, die Umgangsformen. Es wird zehn bis 20 Jahre dauern, unser westdeutsches Verständnis von freierem, spontanerem und diskursivem Unterricht einzubringen in dieses wahnsinnige Pauksystem aus dem 19. Jahrhundert, das in der DDR vorherrscht. Da kommt interkulturelle Erziehung auf uns zu nicht mehr nur mit den Kindern türkischer Immigranten, sondern auch mit Lehrern und Schülern aus der DDR.