Sowjetische Juden flüchten in die DDR

Im ehemaligen NVA-Lager Ahrensfelde kommen Woche für Woche etwa 40 Juden aus der UdSSR an / Flucht vor dem Antisemitismus / Odyssee nach Berlin / Jüdische Gemeinde entscheidet über die Frage, wer „richtiger Jude“ ist  ■  Aus Ahrensfelde Anita Kugler

Vor zehn Tagen lebte Elina M. mit beiden Kindern und Ehemann noch in einer Dreizimmerwohnung in Riga. Jetzt teilt sich die ganze Familie mit drei weiteren Personen aus Odessa ein Zweizimmerprovisorium im Ostberliner Stadtteil Ahrensfelde. Elina M. ist eine russische Jüdin aus Lettland und, der neue Aufenthaltsort Ahrensfelde ist ein Flüchtlingslager.

Das Zimmer mit den Doppelstockbetten liegt im „Zentralen Aufnahmeheim des Ministeriums des Innern“ und wurde früher von der Stasi genutzt. Der abgelegene Kasernenbau, die Betonmauern drumherum, der hölzerne Wachturm zeugen noch von der Vergangenheit. Bis vergangene Woche wurden hier noch die Flüchtlinge aus Rumänien untergebracht, jetzt leben hier ausschließlich Juden aus der Sowjetunion, im Moment 89 Erwachsene und 19 Kinder. Bald werden es noch mehr sein, das Aufnahmelager hat Platz für 200 Flüchtlinge. Geht der Strom so weiter wie seit Anfang Mai, dann werden Ende Juni die Aufnahmekapazitäten erschöpft sein.

Elina M. und ihre Familie gehören zu den rund 40 sowjetischen Juden, die wöchentlich vor der aufflammenden antisemitischen Stimmung in die DDR flüchten. Die meisten treibt die national-chauvinistische „Pamjat„-Bewegung aus dem Land, die mit dezidiert rassistischer Propaganda die Juden für all den Terror während der stalinistischen Zeit verantwortlich macht. In Riga ist die Lage komplizierter. Die Pamjatbewegung ist unter den in Lettland lebenden Russen zwar genauso populär wie in Moskau, Leningrad oder Odessa, aber terrorisiert wurden Elina M. und ihre Familie nicht von „russischen Schwarzhemden“, sondern von nationalistischen Letten. In Riga entsteht eine paradoxe Situation, erzählt Elina M.; die lettische Autonomiebewegung hat den Juden zwar die ungehinderte Ausübung ihrer Religion und die Pflege der jüdischen Traditionen beschert, gleichzeitig aber auch antijüdische Ressentiments mobilisiert. Ihre beiden Kinder wurden „an den Pranger gestellt“, die Lehrer warfen den Acht -und Zehnjährigen vor, daß „die Juden“ an der sowjetischen Okkupation von 1941 schuld sind, genauso wie an der folgenden zigtausendfachen Deportation von Letten in die sibirischen Kohlengruben.

Irgendwann, nach Prügelandrohungen und anonymem Telefonterror reichte es der Familie. Sie stellten beim Außenministerium keinen offiziellen Ausreiseantrag, sondern hauten einfach ab. Und jetzt sind sie in Berlin.

Die Lage ist aber auch hier kompliziert. Im Unterschied zur Bundesregierung hat der Ministerrat der DDR schon vor Wochen entschieden, daß Juden aus den sowjetischen Staaten ein Bleiberecht erhalten. Zwei Probleme gilt es aber hier zu lösen. Zum einen müssen Wohnungen, eine Arbeit, ein deutscher Sprachkurs organisiert werden, zum anderen verbindlich geklärt werden, wer eigentlich „Jude“ ist. Das klingt absurd, denn in der Sowjetunion werden die Juden als ein Volk, als eine „Nation“ betrachtet und nicht als eine Glaubensgemeinschaft. In den sowjetischen Pässen wird ausdrücklich die „jüdische Nationalität“ und nicht die Religionszugehörigkeit vermerkt.

Aber das tut es nicht. Wer Jude ist, entscheidet der Verband der jüdischen Gemeiden in der DDR, beziehungsweise die Jüdische Gemeinde Ostberlin. Aufgenommen im Heim werden nämlich nur die Juden, die einen Nachweis ihres Jude-Seins, ausgestellt von der Jüdischen Gemeinde, erbringen. „Bescheinigung“ heißt beschönigend die Eintrittskarte in das Ahrensfelder Flüchtlingslager. Der für die Aufnahmeformalitäten zuständige Sachbearbeiter, Peter Heym, beruft sich bei dieser Procedere auf eine zwischen der Regierung und dem Verband der jüdischen Gemeinden beschlossene „Vereinbarung“. Klaus Pritzkuleit, Mitarbeiter im Büro des Ministerrates, sieht die Lage etwas anders. Die Hilfsangebote der Jüdischen Gemeinde nimmt man zwar gerne an, aber von einer exklusiven „Vereinbarung“ wisse er nichts.

Bislang gilt aber, um in Ahrensfelde einen Schlafplatz zu bekommen, ausschließlich diese von der Jüdischen Gemeinde ausgestellte „Bescheinigung“. Sie ist ein Unding, denn die Jüdische Gemeinde ist keine säkulare Institution und nicht alle Juden sind religiös. Der Paß müsste also reichen.

Noch unsinniger werden diese jüdischen Identitätspapiere aber durch den Fakt, daß es in der DDR zwei jüdische Gemeinden gibt. Die in der DDR aus der Sowjetunion ankommenden Juden müssen sich also nicht nur konfessionell bekennen, sondern sich obendrein noch für die richtige Gemeinde entscheiden. Sollten die bescheinigungssuchenden Juden nämlich auf die Idee kommen, sich einen „Abstammungsnachweis“ bei der zweiten jüdischen Gemeinde, der orthodoxen Adass Jisroel zu holen, sind sie verloren. Entweder werden sie in Ahrensfelde erst gar nicht aufgenommen, oder, wenn sie das bereits sind, an die frische Luft befördert.

Elina M. und ihre Familie hatten sich „richtig“ entschieden, sie dürfen auf unbestimmte Zeit noch im Lager bleiben. Sergej K. aber, ein Jude aus Moskau, hat Pech gehabt. Sein von Adass Jisroel ausgestelltes Papier akzeptierte die Heimleitung nicht als Beweis seiner Herkunft, er mußte seine Koffer packen und wurde am vergangenen Donnerstag zum zweitenmal aus dem Heim gewiesen.