Eine Oberklasse als des Mitleids fähig

Die aus einer jüdische Bankiersfamilie stammende Ingrid Warburg-Spinelli erinnert sich Mit der Politisierung des Gewissens ging der Weg in den Widerstand  ■  Von Dorothee Sölle

Eigentlich interessiert mich die Kultur der Finanzelite nicht besonders; die Anzahl der schloßähnlichen Besitzungen und die Scharen der Dienstboten der Oberklasse lassen mich kalt; das Gefühl, daß Geld und Geist nicht zusammengehen, sondern einander, je mehr von einer dieser Qualitäten vorhanden, ausschließen, steckt, einigermaßen unzeitgemäß, in mir. Und doch gibt es Ausnahmen von der Regel, Widersprüche zum überkommenen Gefühl. Einen solchen präsentieren die hier vorliegenden Lebenserinnerungen einer deutschen Jüdin, der Hamburger Bankierstochter Ingrid Warburg, die als eine von vielen Frauen aus ganz anderen Klassen in die Geschichte des europäischen Widerstands gegen die deutsche Barbarei gehört. „Widerstand“ verstehe ich hier im weiten Sinne des Wortes, der nicht nur die Kämpfenden, sondern auch die tätig Mitleidenden einschließt. Was hier vorliegt, ist der Bericht einer Sympathisantin, einer Frau, die aus der „Dringlichkeit des Mitleids“ handelte. Was die heute Achtzigjährige für die Einwanderung jüdischer und anderer Verfolgter in die USA geleistet hat, ist zunächst im Rahmen ihrer Klasse zu verstehen, deren Möglichkeit - Geld, Bildung, Einfluß, internationale Beziehungen und Anteilhabe am geistigen Leben - sie exemplarisch im Sinne sozialer und politischer Verantwortlichkeit genutzt hat. Immerhin hat das von Ingrid Warburg in Amerika mitgegründete „Emergency Rescue Committee“ mindestens 2.000 Flüchtlinge aus dem von den Nazis besetzten Frankreich gerettet.

Ingrid Warburg ist nicht nur Großbürgerin, sondern auch und wesentlich - deutsche Jüdin, aus einer Welt stammend, die sich kulturell eher deutsch als jüdisch verstand. Aus der Geschichte der seit dem 17. Jahrhundert in Hamburg ansässigen Bankiersfamilie hat mich keine Begebenheit so fasziniert wie die des Abkommens zwischen zwei ungleichen Brüdern. Aby Warburg ((1866 bis 1929), der später in der Familie als das geistige Oberhaupt, der Rabbi, galt, schloß als Zwölfjähriger mit seinem Bruder Max eine Art Vertrag, in dem er seine Rechte als Erstgeborener abtrat unter der Bedingung, daß der Bruder ihm zeitlebens alle Bücher kaufte, die er haben wollte! Das Interesse an geistigen, künstlerischen, politischen und humanitären Fragen war den ökonomischen Fragen übergeordnet. Dieses andere Deutschland hat Ingrid Warburg geprägt; es ist mir aus den schwächeren letzten Teilen des Buches über die Nachkriegszeit nicht ganz klar geworden, ob sie den Untergang dieserart Heimat auch in der Restaurationsepoche der Nachkriegszeit wahrgenommen hat oder ob die deutschen Träume unausrottbar in ihr blieben.

Jedenfalls wuchs sie innerhalb einer geglaubten Harmonie der Gegensätze auf; eine Symbiose aus Judentum und deutschem Nationalempfinden schien in der Welt ihrer Eltern noch möglich. Die Hamburger Bankiersfamilie war weltbürgerlich verflochten und sozialengagiert, und Reichtum bedeutet bekanntlich, nicht nur Geld, sondern vor allem Beziehungen zu haben, Leute zu kennen, Hilfe erbitten und sie gewähren zu können. Der Bericht über die Schul- und Studienjahre in der berühmten Internatsschule Salem, an den Universitäten von Heidelberg und Oxford spiegelt diese noch ungetrübten Vertrauen der bürgerlichen Klasse in das Deutschland der Bildung, zumindest für die Elite, und der Kultur, indem sich nach allgemeiner Überzeugung „so etwas wie Hitler doch nicht halten konnte!“

Die wichtigste Frage, die man an diesen biographischen Bericht stellen muß, ist die nach dem politischen Bruch, der aus der geschlossenen und behüteten Welt heraus in die Hilfsgemeinschaft mit Kommunisten und Anarchisten führte. Es wäre ja auch glatter Weg vom Sommersitz der Familie auf dem Kösterberg in Hamburg-Blankenese zum Beispiel nach Beverley Hills in Kalifornien möglich gewesen. Wie kam diese Frau dazu, nicht nur sich zu retten, nicht nur sich zu verwirklichen? Auf diese Frage antworten die ersten Teile des Buches, die den Weg aus der Kindheit mit Hauslehrer und Gouvernanten, durch eine von Strenge und Idealismus geprägte Erziehung zum Studium der Philosophie und Literatur unter den interessantesten Köpfen der Zeit skizzieren. Vielleicht war Oxford und das Zusammenleben mit Gleichgesinnten, die alle an eine Völkergemeinschaft ohne „kulturelle, religiöse und nationale Absonderung“ glaubten, der Höhepunkt der alten Welt. Eine Auswanderung nach Israel schien absurd, das Ziel war eine kosmopolitische Verschmelzung, in der die Unterschiede religiöser und nationaler Art immer unwichtiger würden. In Oxford entstanden auch die langjährigen Freundschaften, die dieses Buch so faszinierend machen, mit dem später von den Nazis hingerichteten Adam von Trott zu Solz und mit Fritz Schumacher, der später Small is beautiful schrieb.

Eine Politisierung des Gewissens und dann auch des Bewußtseins setzt für Ingrid erst spät ein. Noch 1936 führt sie nach bestandener Promotion zu Besuch nach New York, vermeintlich für sechs Wochen. Sie ist 26 Jahre alt, außerordentlich schön, reich und gebildet; in ihrem Paß ist das J eingetragen und der Name Sarah hinzugefügt. Aus der für sechs Wochen geplanten Reise wurde die Emigration. Aus der Hilfsbereitschaft, sich für verwaiste Flüchtlingskinder einzusetzen, wurde die Arbeit in politischen Organisationen, sich für verfolgte, mit dem Tod bedrohte Juden und Kommunisten einzusetzen. Aus der schönen Liberalität wächst moralischer Widerstand.

Der Stil dieses Berichtes ist karg, fast distanziert vom eigenen Leben, ohne jede Larmoyanz. Ingrid Warburg beschreibt die Demütigung durch einen Kommilitonen, der ihr mitteilt, er könne sie jetzt nicht mehr grüßen, da er sonst Gefahr laufe, sein Stipendium zu verlieren. Genauso unterkühlt wie spätere Beobachtungen aus dem reichgewordenen Deutschland Adenauers. Falls es Memoiren ohne Eitelkeit geben kann, hier sind sie.

So zurückhaltend diese Zeitzeugin in der Aufzeichnung von Gefühlen ist, so reich ist sie im Nennen von Namen und dem anekdotischen Festhalten von den vielen außerdordentlichen Menschen, mit denen sie zusammenkam; als bestünde das Leben im wesentlichen aus Besuchen, Begegnungen, Gespräche, Miteinander-Pläne-Schmieden und Miteinander-Reisen! Als wäre Friedrich Schillers Traum von der „Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts“ innerhab dieser Kultur der Freundschaft einmal wahr geworden!

Was manchmal wie „name-dropping“ (eine nicht nur in USA verbreitete Unsitte, das Ego durch Erwähnung auch der flüchtigsten Begegnungen mit großen Persönlichkeiten oder ihren Namen zu drapieren) erscheint, wirkt hier wie ein natürlicher Lebensvollzug, zu dem Literatur, Musik und Malerei einfach dazugehören. Es ist, als sollten diese bedeutenden Männer und Frauen aus Kunst, Wissenschaft und Politik, darunter Eleanor Roosevelt, Franz und Alma Werfel, Chagall, Andre Breton, Thomas Mann und zahllose andere miteinander verbunden und in die Umgangsformen, die Anteilnahme und Raum für die Andersheit des Anderen erlauben, hineingezogen werden. So entsteht in der sonst eher unterkühlten Darstellung ein Netz, nicht der Fakten, die als mehr oder weniger bekannt vorausgesetzt werden, wohl aber der geistigen Elite der Zeit. Man verblättert sich gern in diesem Buch, läßt sich zu historischer Neugier verleiten und gewinnt in den ganz ausgezeichneten enzyklopädischen Anhang zu Widerstand und Antifaschismus in Eurpa und Amerika solides Wissen und ein lebendiges Bild, zum Beispiel über die internen Schwierigkeiten der nordamerikanischen Flüchtlingspolitik, die den großen Dissens in den Staaten zwischen Isolationismus und Interventionalismus widerspiegelt.

Bestimmte Züge des Lebens in New York, die Ingrid Warburg schildert, habe ich in den 70er und Anfang der 80er Jahre ähnlich erlebt, unzählige Treffen der Gleichgesinnten, Gründung neuer committees und coalitions gegen Rassismus und Krieg, all die vielen, oft vergeblichen Versuche, dem Rad in die Speichen zu fallen, wie sie von einer kleinen, aber aktiven Gruppe von Juden und Christen, Schwarzen und Feministinnen und Vertretern der verschiedensten Minderheiten unternommen wurden. Selbstverständlich war der jüdische Anteil in den dreißiger Jahren höher, aber der Stil der Bewegung, ihr Geist des committment ist nach wie vor weltbürgerlich und sehr jüdisch.

Ich vermute, daß ein Interesse von Ingrid Warburg beim Schreiben dieses Buches war, den Geist sozialer Verantwortlichkeit im Judentum herauszustellen und so eine Brücke zwischen religiösen und post-religiösen Juden zu bauen. Als schlüge die Säkularisierung unter den Juden anders zu als bei den Goijim, könnte sie zwar dem Ritual und den Eßvorschriften entrinnen lassen, nicht aber einer Kultur, die die Zusammengehörigkeit mit den Leidenden des eigenen, aber dann auch anderer Völker so sehr in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens rückt. „Entziehe dich nicht deinem Fleisch“, heißt es bei Jesaja.

Ingrid Warburgs Verhältnis zur eigenen Herkunft ist eigenartig komplex, es schillert zwischen Anknüpfung und Widerspruch. Die selbstverständliche Verwurzelung in der Klasse ihrer Herkunft auf der einen Seite, die Ehe mit einem italienischen Berufsrevolutionär auf der andern; die abgelöste Beziehung schon der Eltern von den Traditionen des Judentums und ihr eigener gesellschaftlich-kulturell begründeter Wunsch danach, katholisch zu werden; und schließlich die am wenigsten reflektierten Spannungen, in die das Leben eine durch Bildung emanzipierte Frau zu vorgeschriebenen Geschlechtsrollen einer italienischen Gattin und Mutter bringt.

Schade, daß das Buch zwar viel vom Geist des Mitleids vermittelt, das andere im Titel versprochene Thema von der Einsamkeit, nein zu sagen aber wenig entwickelt wird. Natürlich ist jede Erinnerung selektiv, aber hier - und das ist meine Hauptkritik - gibt es eine an vielen Stellen beobachtbare Überbetonung der Anknüpfung an Tradition und Familie, wohl aus dem Wunsch nach Versöhnung geboren; das, was von den Eltern und der Familie trennen mußte, wird heruntergespielt oder verschwiegen. Trennung ist kein Thema dieses Buches, die Einsamkeit hat keine Sprache gefunden.

Dennoch ein faszinierendes Dokument zur Geschichte der Exilierung und des Antifaschismus und zur Kultur einer vergangenen Welt. Sollte es doch möglich sein: Geld und Geist zu versöhnen, eine Oberklasse als des Mitleids fähig zu konzipieren, Anteilhabe an der Macht mit dem Kampf um eine menschheitliche Kultur zu verbinden, die Geistlosigkeit gerade des verfeinerten Konsumismus zu überwinden? Die Menschlichkeit dieses Buches bringt, gewollt oder nicht, etwas von der Unausrottbarkeit der Hoffnung zutage.

Ingrid Warburg-Spinelli: Von der Dringlichkeit des Mitleids und die Einsamkeit, nein zu sagen. Erinnerungen (1910-1989). Verlag Dölling und Galitz, Hamburg, 480 Seiten, 144 Abb., 48 DM