„Ein schmerzlicher Selbsterfahrungsprozeß“

Prof. Dr. Frank Hörnigk wurde im März diesen Jahres zum Direktor der Sektion Germanistik an der Humboldt-Universität zu Berlin gewählt  ■ I N T E R V I E W

taz: Mit welchen Gefühlen bist Du angereist und welchen Eindruck hinterließ die Tagung bei Dir?

Frank Hörnigk: Das erste Gefühl war die Neugierde, auf einen Kreis von DDR-Spezialisten zu treffen, die das Objekt ihrer Begierde gerade verloren haben, die vor dem Problem stehen, eine Erklärung dafür zu finden, daß sie irgend etwas übersehen hatten. Für diese Tagung spricht, daß auch tatsächlich hinterfragt wurde, warum das, was im Herbst und in den folgenden Monaten passierte, nicht vorher prognostiziert worden war.

Wenn Wissenschaft über Jahrzehnte arbeitet und dann gewahr wird, daß sie im permanenten Blick auf ihren Gegenstand seine wesentlichste Entwicklung nicht hat erfassen können, dann ist natürlich ein bißchen Selbstkritik notwendig. Die ist auch formuliert worden.

Wobei diese Überraschung ein Moment ist, das eigentlich westliche Forscher und DDR-Intellektuelle verbindet.

Ja, ich will auch nicht den Eindruck erwecken, als wäre meine Situation nur die des Beobachters gewesen, als könnte ich schadenfroh feststellen: Was haben wir Euch jetzt überrascht! Die Teilnehmer aus der DDR, die nach Röttgen kamen, waren Wissenschaftler, deren Haltung grundsätzlich geprägt war von einer kritischen Position, aber verbunden mit der Vorstellung einer sich weiterentwickelnden sozialistischen Gesellschaft und Demokratie. Von daher war das keine Versammlung im Freudentaumel. Aber es war auch keine saure Stimmung. Sie war vielmehr wesentlich geprägt von einer Haltung verantwortlichen Nachdenkens über Zukunftsprobleme.

Hat Dich nicht provoziert, daß von den Siegern der Geschichte die Rede war und von den Besiegten, womit die linken DDR-Intellektuellen, also auch Du gemeint waren?

Mir fiel auf, daß sehr unterschiedliche Konzepte in Röttgen zum Vorschein kamen, sich dieser geschichtlichen Erfahrung bewußt zu werden. Hierzu gehört ein antinomisches Denkmuster „Sieg/Niederlage“, eine bei verschiedenen Leuten ganz manifeste Militär- oder Jägersprache: „Das Wild liegt auf dem Rücken“, „Kernwaffenschlag auf das ZK“. Derartiges Denken bestimmte sicherlich nicht das Klima dieser Versammlung insgesamt. Aber diejenigen, die in dieser Siegerpose redeten, haben damit gezeigt, in welchem Selbstverständnis sie zu arbeiten gedenken. Daß das nicht nur als Befreiung erlebt werden kann, vereinte nicht nur die DDRler, sondern auch diejenigen aus der Bundesrepublik, die

-jenseits des Feindbildes „DDR“ - über die Chancen nachdachten, die sich für die Entwicklung einer demokratischen und gerechten Gesellschaft ergeben könnten.

Ich selbst habe klarzumachen versucht, daß es für ein vereintes Deutschland und auch für die europäische kulturelle Entwicklung wichtig wäre, sehr sorgfältig zu gucken, was aus dieser Konfliktgeschichte in eine zukünftige Gesellschaft eingebracht werden kann.

Ein Streitpunkt wird ja noch einige Zeit sein, ob zum Erbe, das die DDR bereitstellt, die Utopie der November/Dezember -Revolutionäre gehört. Du forderst Solidarität mit Heiner Müllers oder Christa Wolfs Engagement während der November/Dezember-Ereignisse.

Mir ging es darum aufzuzeigen, daß die zum Teil fürchterliche Realität der DDR-Gesellschaft nicht allein durch direkten Einfluß des Westens, sondern vor allem an sich selbst zusammengebrochen ist - in einem ganz wesentlichen Maße durch einen Druck von unten, durch eine Bewegung, die einige Revolution nennen. Aber die Tatsache, daß diese alte DDR-Gesellschaft von den Leuten in der DDR selbst abgeschafft werden konnte - unter dem Einfluß, der mit Gorbatschows Politik aus Moskau kam -, ist eine historische Erfahrung, die es für meine Begriffe zu bewahren gilt. Das am Ende zu verdrängen, läuft auf Unterschlagung hinaus. Es ist logisch für mich, daß solche Unterschlagung von denen begangen wird, die nicht wahrhaben wollen, daß aus dieser Gesellschaft heraus auch ihr kritisches Potential gewachsen ist.

Ich glaube, es ist nötig wahrzunehmen, daß man die kulturelle Identität von 16 Millionen Leuten nicht einfach verdrängen oder vernichten kann. Wenn diese 16 Millionen keine Möglichkeiten mehr haben, sich selbst auch positiv zu begreifen in ihrer geschichtlichen Existenz, sind das gefährliche Voraussetzungen für die Zukunft.

Trotzdem müssen doch die offiziellen „klassischen“ Werte der DDR - Antifaschismus und Humanismus - kritisch überprüft werden.

Ich stimme Dir völlig zu, natürlich muß das geschehen. Und das wird auch ein schmerzlicher Selbsterfahrungsprozeß sein. Auf der anderen Seite halte ich es für verhängnisvoll, wenn jemand aus der Bundesrepublik DDR-Autoren ermahnt, ihren Antifaschismus zu überprüfen, aber es überflüssig findet, sich selbst dieser Aufgabe zu stellen. Es entstand manchmal auf der Tagung der Eindruck, als sei hier eine sehr selbstgefällige Gesellschaft aufgefordert, einen Dreckhaufen einzugemeinden.

Ich muß allerdings hinzufügen: Das haben ganz viele Kollegen aus der Bundesrepublik - meinem Eindruck nach auch so empfunden. Wir sprachen ja bisher nur von einer Tendenz auf der Tagung. Die war für mich überhaupt nicht die Beherrschende. Ich habe auch Leute kennengelernt, die das Ende der DDR als eine gemeinsame Herausforderung ansahen, den Prozeß deutscher Politik und Geschichtsentwicklung selbstkritisch zu begleiten. Es wird sich notwendigerweise etwas entwickeln, das zwar wesentlich geprägt ist durch Wertbilder der Bundesrepublik, aber hoffentlich nicht allein durch eine bloß quantitative Ausdehnung des gegebenen Gebildes Bundesrepublik.

Interview: Joachim Lehmann