DEN GESCHUNDENEN SEELEN...

■ ...des Urban-Krankenhauses eine Alfred-Döblin-Patientenbibliothek

„Dr. Döblin vom Urban kam mit seiner lieblichen Braut“ und diagnostizierte „Schilddrüse“, notierte Else Lasker-Schüler ihre Erinnerungen an das Kreuzberg im Jahre 1909. Die Diagnose erwies sich als falsch, die Schilddrüse mußte trotzdem raus; für die Kündigung des jungen Arztes am Urban -Krankenhaus hingegen wurde kurz darauf „seine liebliche Braut“ verantwortlich gemacht: „In Zukunft sollen verheiratete Ärzte nicht mehr in Krankenhäusern beschäftigt werden“ (Protokoll der Krankenhaus-Deputation vom 30. Januar 1909).

So ließ sich Dr. Alfred Döblin 1911 als Armenarzt und Geburtshelfer in der Blücherstraße am Halleschen Tor nieder

-um erst achtzig Jahre später als Dichter und Institution ins Urban zurückzukehren. Seit Sonntag hat das Urban -Krankenhaus seine Alfred-Döblin-Patientenbibliothek und ihr Initiator, Alleinunterhalter und Bibliothekar Ludger Bült, seinen festen Job in einem Schmuckstück auf 65 Quadratmetern.

„Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Patienten...“, der Chef der Krankenhausverwaltung, Lahmann, ließ es sich nicht nehmen, die Begrüßungsworte zur Eröffnung (und gemäß Lübkescher Sprachregelung) höchstselbst zu richten - etwas indigniert hörte es die versammelte Kreuzberger Lokalprominenz von S.T.E.R.N.-Hämer bis SPD -Edel.

Mitten im sozialdemokratischen Luxus der Krankenhaus -Vorhalle, zwischen Delikatessenlädchen und Topfpflanzen ließ sich der Chef hinreißen zu dem Bekenntnis „Ich war ja anfangs skeptisch“ - aber nun ist er überzeugt und war ja auch letztlich zumindest bis zum Bau eines Potemkinschen Dorfes bereit gewesen: Die Kosten der Umbauarbeiten trug das Urban - für die Bücher durfte der Bibliothekar selber sorgen. Dieser (früh ergraut und spitzgesichtig) bekam denn auch für seine „zusammengeschnorrte und -gesponserte“ Bibliothek von dem Rest der Festredner das höchste Lob. Von Gesundheitssenatorin Ingrid Stahmer über „Sohn“ Claude Döblin bis „Schüler“ Günter Grass waren sich alle einig: Lesefieber heilt geschundene Körper und kranke Seelen allemal besser, als es neue Medien vermöchten (und hinter der breiten Stirn der Festgemeinde sah man erinnerungen rumoren an vergangene Kinderkrankheiten: Feste des Schmökerns und fiebrigen Phantasierens). Kranksein nämlich bedeutet einen Gewinn unfreiwilliger Frei-Zeit, weiß der Bibliothekar Ludger Bült, die „sinnvolle Begleitung“ dieser „kritischen Lebenslage“ durch Bücher kann einen Prozeß der Selbstfindung auslösen, denn: „Die Kranken-Geschichte erwächst aus der Sprache“.

Beifall akklamierte da die Freizeit-Gesellschaft in der Vorhalle („Die Patienten des Krankenhauses Am Urban sind ein Querschnitt der Kreuzberger Bevölkerung“); Herr Dr. Alfred Döblin aber hätte griesgrämig den Kopf geschüttelt: Mit seinem „Namensvetter“, dem Schriftsteller, zu dem er in seinen freien Stunden wurde, hatte der Arzt nicht viel im Sinn. „Meine literarischen Neigungen sind nicht groß, Bücher langweilen mich erheblich, und was insbesondere die Bücher des Mannes anbelangt, der, wie sie sagen, meinen Namen trägt, so habe ich sie gelegentlich bei Bekannten in die Hand genommen; aber was ich da erblickte, ist mir völlig fremd.“

Wie „Deutschland„-geschundene Seelen zu balsamieren seien, wußte hingegen der Stargast des Sonntags, Günter Grass. Sein klassischer Vortrag über den Lehrer, Einzelgänger, Exilanten und Anti-Klassiker Döblin mündete in der allseits ersehnten Frage: „Wie hätte er sich heute verhalten?“ Er hätte protestiert: gegen die „Hexenjagd“ auf eine zur Zeit zögerliche Christa Wolf, die gehetzt wird von der taz bis zur 'Zeit‘. „Alfred Döblin hätte protestiert“, dichtete der Erzähler Günter Grass, „und ich hätte mich dem angeschlossen.“ Damit schloß die Matinee, die Badebemäntelten nahmen wieder den Raum der Krankenhaus -Vorhalle in Besitz, und die Alfred-Döblin -Patientenbibliothek öffnete dem Alltag ihre Tür. Doch wer weiß. Vielleicht wird man ihn, den magischen Namensgeber („Wenn uns nicht der Name Alfred Döblins zur Verfügung gestanden hätte, wäre diese Bibliothek nicht entstanden“), nun wieder ab und zu durch die Gänge des Urban geistern sehen - wie anno dunnemals: „Ich trieb mich jahrelang durch die Krankensäle und besonders die Laboratorien. Mäuse, Meerschweinchen, Hunde begegneten mir da in den Laboratorien; vorne im Pavillon suchte man die Menschen zu heilen, hinten die Tiere zu töten. Bis spät in die Nächte lag ich in den biologischen Laboratorien, und auf dem Rückweg strich ich durch die Krankenstation: da kamen die Fiebernden, die Vergifteten herein: war das ein Leben.“

Fritz von Klinggräff