Wie verloren ist der reale und ideale Sozialismus?

In der Zeitschrift 'Prokla‘ suchen linke WissenschaftlerInnen nach Antworten auf die Entwicklung in Osteuropa  ■  Von Dietmar Bartz

Im Grunde handeln die meisten Texte im jüngsten Heft der 'Prokla‘ noch gar nicht von der Suche nach dem verlorenen, sondern von der Analayse des verlierenden Sozialismus. Diese Beiträge wurden vor den Umstürzen in der DDR, der Tschechoslowakei, Bulgariens und Rumäniens verfaßt, zu einer Zeit also, in dem die ökonomische und politische Krise der realsozialistischen Länder zwar schon deutlich sichtbar war, aber noch nicht zum Kollaps des Realsozialismus in diesen Ländern geführt hatte.

Also schon wieder Altpapier mit allenfalls historischer Bedeutung? Zwar enthält das Heft Vorschläge für eine öffentliche Strategiediskussion, um die Ökonomie der DDR zu modernisieren. Lutz Marz, Produktionsleiter im VEB Kabelwerk Adlershof, schlägt dazu eine öffentliche Förderung dezentraler Kooperationsinitiativen vor. Die politische Entwicklung in der Noch-DDR ist über solche Konzepte aus der Übergangsphase allerdings längst hinweggegangen. Die anderen Texte jedoch, frei von den drängenden tagespolitischen Fragen, lohnen die Lektüre noch immer. Der gemeinsamer Nenner der AutorInnen besteht allerdings aus kaum mehr als dem Verlangen nach Information, Öffentlichkeit und Offenheit von sozialistischer Wirtschaft und Gesellschaft.

Wenn er nicht schon einiges über die Lage der ungarischen Stahlarbeiter in den achtziger Jahren veröffentlicht hätte, müßte Michael Burawoy vorgeworfen werden, daß seine Überlegungen zu ihrem Klassenbewußtsein empirisch etwas dünn abgesichert oder jedenfalls präsentiert sind. Jeweils einige Monate lang hat Burawoy in den Lenin-Stahlwerken von Mikolc gearbeitet, obwohl der kalifornische Soziologe den sozialistischen Arbeiter lieber in Polen erforscht hätte aber da waren das Kriegsrecht und andere Mißhelligkeiten vor.

„Sie ignorieren die gelebte Erfahrung der Arbeiterklasse“, wirft Burawoy sowohl Erik Olin Wright als auch dessen Kontrahenten Adam Przeworski vor; Wright definiert die „Klassenposition“ innerhalb wie auch außerhalb des Lohnarbeitsverhältnisses, während nach Przeworski der Klassenkampf eher zu Konzessionen und sozialer Befriedung führt. Ausgerechnet im Staatssozialismus macht Burawoy das Potential für einen demokratischen Sozialismus aus - der Gegensatz zwischen Anspruch und Wirklichkeit werde zum Klassengegensatz zwischen Planern und Produzenten und rege ein kritisches Bewußtsein frei von politischer Täuschung an. Burawoy hat schließlich eine „Vision von Arbeitern, die ihre Gesellschaft selbst organisieren“.

Eine Vision beschreibt auch die feministische britische Ökonomin Diane Elson, die allerdings zunächst Alec Nove und Ernest Mandel kritisiert. Sie teilt des Trotzkisten Ansicht, daß es eine Alternative zwischen Markt und bürokratischer Planung gibt, stimmt aber Nove zu, der im Gegensatz zu Mandel den Preismechanismus für ein in der sozialistischen Ökonomie unverzichtbares Instrument hält. Elsons Vision ist die Vergesellschaftung von Kauf- und Verkaufakten und des Preisbildungsprozesses; sie fordert, daß Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft im Zentrum der sozialistischen Ökonomie stehen müssen. „Unbezahlte Arbeitsprozesse im Haushalt und in der Gemeinschaft liegen im Kern der Produktion und Reproduktion der Arbeitskraft. Der Begriff Produzent muß eine weitere Bedeutung erhalten als bloß Arbeiter an bezahlten Arbeitsplätzen.“ Hinzu kommen Basiseinkommen, die kostenlose Bereitstellung von Grunddiensten (für Gesundheit und Ernährung) und der freie Zugang zu Informationen.

Daraus entwickelt Elson eine elektronisch vernetzte, feministische, marktorientierte und dezentrale sozialistische Ökonomie, die Apple-Gründer Steve Jobs bis zu seiner Enteignung das Herz hätte höher schlagen lassen: mit einem System aus Netzkoordinatoren, Preis- und Lohnkommissaren, Käufer-/Verkäufernetzen und Verbraucherverbänden, die sich allesamt die Segnungen der Mikroprozessoren zunutze machen, um kostenlose Öffentlichkeit herzustellen. Eine Art Mega(chip)-Glasnost durch digitales Equipment. Wer in den Zeiten der realsozialistischen Bankerotte den Mut hat, linke Visionen zu veröffentlichen, muß mit ebenso schallenden wie billigen Ohrfeigen rechnen, aber Diane Elson merkt zu Recht an: „Es ist weitaus leichter, die Gedanken anderer zu kritisieren als eine mögliche Alternative zu entwickeln.“

Düsterer sind die Forschungsergebnisse in der zweiten Hälfte des Heftes. Eine „Tragödie“ nennt der Westberliner Hajo Riese das notwendige Scheitern des reformsozialistischen Versuchs, in der Planwirtschaft das Kostendeckungsprinzip zur Norm zu erheben und zugleich einen Pluralismus der Organsiationsformen zu realisieren. Grundsätzlicher wird noch der New Yorker Hochschullehrer Immanuel Wallerstein, der - im Gegensatz zum Marxismus den Marxismus-Leninismus als Ideologie ausgedient sieht, „weil alle Entwicklungsideologien ausgedient haben“. Adam Przyworski schließlich, Ökonom in Chicago, urteilt nach einer Diskussion reformsozialistischer, marktsozialistischerf und sozialdemokratischer Modelle, die Reformierbarkeit des realen wie idealen Kapitalismus sein höher als die der beiden entsprechenden Typen des Sozialismus.

Ist die sozialistische Kritik an der Irrationalität des Kapitalismus aber noch zu bewahren, wenn sich die sozialistische Organisation der Ökonomie als politisch unmöglich herausstellt? (Ja, sagt er).

Prokla 78, Auf der Suche nach dem verlorenen Sozialismus. 172S., 16DM. Zu beziehen über: Rotbuch-Verlag, Potsdamer Str.98, 1W-Berlin30.