Nachts schlafen die Würmer doch

■ Zelttheater-Premiere „Der Rattenfänger“ / Theaterhof Priessenthal auf der Bürgerweide

Ein rundes blaues Zelt auf der Bürgerweide. In der Mitte, hochgestellt, die Bühne, nackt, ohne Kulissen, nur eine Empore mit Treppen und Rampen. Drumherum auf Holzbänken sitzen die Zuschauer. Auf der Bühne eine erinnert sich an früher, an die Schule, an die Sprotte, die Lehrerin, die mit den Kindern den „Rattenfänger von Hameln“ einstudiert. Schulspiel. Aber schon lange ernst. Am Arm der Lehrerin: die Hakenkreuzbinde.

Noch wissen die Kinder von nichts, spielen nach der Schule Indianer, mit Friedenspfeife und Federn. Häuptling Schweres Fleisch, vulgo Roland (Martin Lüttge). Lea, seine Squaw (Ulrike Schlue). An den Marterpfahl gebunden wird Heinerle, der Streber, der sich vor Angst fast in die Hosen pißt (Jan -Geerd Buss). Plötzlich stieben sie auseinander: Essenszeit.

Neues Spiel. Roland in seinem Zimmer, er hat eine Holzeisen

bahn. Lea besucht ihn, sie spielen, daß es einen ganz gefangennimmt. Sie brauchen nicht mehr als drei grobe, aneinandergehängte Holzklötze. Da kommt Rolands Mutter zurück: „Ein deutscher Junge spielt nicht mit Judenmädeln.“ Plötzlich trägt Lea den gelben Stern. Roland lernt schnell. „Du sollst nicht länger meine Squaw sein, du Judensau.“

Der Theaterhof Priessental, seit Mittwoch mit seinem Zelt in Bremen, spielt Kindheitsmuster. Im ersten Teil Erinnerungen an die Kindheit in der Nazizeit. Rolands Eltern sind Nazis, Marions Vater ist im Widerstand, Lea ist ein jüdisches Kind. Verletzungen: Der antifaschistische Vater, der nicht versteht, warum seine Tochter die Siegesrune nicht hergeben will, sie ist, Hitler hin oder her, stolz auf die Auszeichnung. Roland, der Lea preisgibt, um ein deutscher Junge zu sein. Und in die Verletzungen hinein, wie eine

innere Rückblende, die Erinnerung der Eltern an die eigene Kindheit. Rolands Mutter, die stramme Nazisse, sieht sich, wie sie dem preußisch verkarsteten Vater im wilhelminischen Kaiserreich dafür danken muß, daß sie ein Geschenk nicht bekommt.

Kleine Szenen, rascher Rollenwechsel, traumartige Rückblenden: ein Spiel, das unter die Haut geht, eine Präsenz, die im zweiten Teil verloren geht. Heinerle, Roland, Marion sind nun erwachsen. Und nun solls also um die Kindheit ihrer Kinder gehen, um die Verletzungen, die sie weitergegeben haben. Aber diese Verletzungen bleiben auf halber Strecke in der Luft hängen.

Da sitzen also auch die Kinder von heute zusammen und wollen Indianer spielen, aber sie wissen nicht wie, sie brauchen einen vermutlich pädagogisch wertvollen Indianerkasten mit Utensilien und Anleitung. Parallel zum ersten Teil bricht auch hier unvermittelt die Realität ein, der Spielplatz, auf dem sie spielen, ist ziemlich verseucht. Von einem Knebel aus Blättern bekommt Judith (Lotte Reitzner) einen Allergieschock. Solches aber mit der Ausgrenzung des jüdischen Kindes im ersten Teil gleichzusetzen, finde ich unangemessen.

Aber was mir im zweiten Teil ganz besonders fehlt, sind die ganz spezifischen Verletzungen, die unsere Generation ihren Kindern dadurch zufügte, daß sie, um nicht autoritär zu erziehen, ihren Wunsch nach Halt, nach Grenzen

ignorierte. Warum wurde aus Rolands Tochter, die als Kleinkind mit ihrem Kot spielen durfte, ein duckmäusiges Kind, das bei allem, was es irritiert, sofort nach der Hand des Vaters ruft? Ich hätte es interessanter gefunden, solche Spuren weiterzuverfol

gen, anstatt das Stück in einer pädagogischen Idylle enden zu lassen, in der die Kinder unter Marions Anleitung nächtens Regenwürmer beim Paaren beobachten. Christine Spies

bis 30.6. mittwochs bis sonntags 20.30 Uhr, Bürgerweide