Verfolgte fordern Justizperestroika

■ Im berühmt-berüchtigten „Haus am Checkpoint Charlie“ berichteten ehemalige Gefangene des sowjetischen Geheimdienstes NKWD über ihr Schicksal / Rehabilitierung und fairere Verfahren gefordert

Kreuzberg. Wie immer, wenn einer Diktatur das Licht ausgeblasen wird, melden sich Menschen zu Wort, die unter dem Gewaltsystem Repressionen ausgesetzt waren.

Im Haus am Checkpoint Charlie stellten sich gestern ehemalige Gefangene aus den NKWD-Lagern der Presse. NKWD ist die Abkürzung für „Volkskommissariat für innere Angelegenheiten“, einem Vorläufer des sowjetischen Geheimdienstes KGB. Dieser machte es sich in den vierziger Jahren zur Aufgabe, willkürlich Menschen zu verhaften, um sie der „antisowjetischen Propaganda“, dem „Verrat am Weltfrieden“ oder als „Agent des internationalen Imperialismus“ zu beschuldigen. Einmal in die Fänge dieser stalinistischen Organisation geraten, begannen für die Beschuldigten Jahre des Leidens mit dem ohnmächtigen Gefühl, völlig ausgeliefert zu sein. Eingesperrt wurden sie unter anderem in den eben erst vom faschistischen Massenmord befreiten Lagern Sachsenhausen und Buchenwald. Entsprechend lassen die Erzählungen der Häftlinge immer wieder Erinnerungen an die Nazizeit wach werden.

Kurt Seidel wurde als 16jähriger 1945 verhaftet und nach zehntägigem Verhör in das Lager Jamlitz verschickt. Im April 1947 wurde er mit einer größeren Gruppe nach Buchenwald verlegt. 60 Mann pro Viehwaggon. „Auf einem Bahnhof“, erinnert er sich, „ging die Tür auf, und ein Rotarmist schmiß einen Eimer Pellkartoffeln in den Wagen. Wir waren völlig ausgehungert und hatten schon einen Toten unter uns, aber das interessierte niemand.“ Später gab es dann pro Tag einen Liter Kohlsuppe oder „als Belohnung“ ein Zuckerrübenschnitzel, was nichts anderes als Viehfutter war. Von den 38 zusammen mit ihm verhafteten Jugendlichen war bis zur Entlassung die Hälfte gestorben. Insgesamt sind in den NKWD-Lagern zwischen 1945 und 1950 70.000 Menschen umgekommen.

Die ehemaligen Häftlinge dieser Lager verlangen nun zusammen mit allen in der DDR unter dem politischem Strafrecht Verurteilten eine konsequente Vergangenheitsbewältigung. Doch noch immer gibt es Widerstände gegen eine radikale Aufarbeitung dieser dunklen sozialistischen Kapitel. Zuviele der alten Beteiligten haben sich auf die neu geschaffenen Stellen gerettet und verzögern nun die Aufarbeitung. Der designierte neue Präsident des Obersten Gerichts der DDR, Eberhard Wendel, selbst sechs Jahre in SED-Haft, berichtete in diesem Zusammenhang über die leidvolle Diskussion des „Rehabilitierungsgesetzes“, das nun schon in seiner vierten Fassung vorliegt. Er forderte deswegen die Einrichtung einer Rehabilitierungsstelle beim Ministerpräsidenten der DDR. Ob der Weg über die Kassation, also die Aufhebung eines Urteils durch Neuverhandlung, überhaupt der beste ist, bleibe fraglich, wie Wendler meinte. Das politische Strafrecht solle eher von seinem Beginn an als Unrecht bezeichnet werden, um den Betroffenen einen zweiten Prozess zur Feststellung ihrer persönlichen Unschuld, an der bei den einschlägigen Paragraphen keiner zweifelt, zu ersparen. Dabei könnte nämlich passieren, was die Oppositionelle Vera Wollenberger bei ihrem Kassationsverfahren erleben mußte: Bis zum Schluß wurde sie als „Angeklagte“ bezeichnet. Gewundert hat das niemand, denn noch ist z.B. ein williger Erfüllungsgehilfe der SED-Justiz, Altstalinist Kurt Wünsche, Justizminister in der DDR -Regierung.

Torsten Preuß