„Zu viele Arme fressen uns den Fortschritt auf“

Bevölkerungsentwicklung und Umwelt stehen im Zentrum des neuen Weltbevölkerungsberichts der UN / Eine sinkende Geburtenrate in der Dritten Welt soll der Schlüssel sein, um den globalen Ökokollaps zu verhindern / Für hiesige Medien ein Anlaß, um die Verursachung und Lösung der Umweltprobleme auf den Süden abzuschieben  ■  Von Gabriela Simon

Global denken, lokal handeln - für Bevölkerungspolitiker war das schon immer eine Selbstverständlichkeit. Auf globaler Ebene berechnen sie die Wachstumsraten der Weltbevölkerung und gehen dann in die Dörfer und Elendsviertel in der Dritten Welt, um dort etwas gegen die hohen Geburtenraten zu unternehmen. Mittlerweile haben sie die Gefährdung des weltweiten Ökosystems für ihre Ziele entdeckt. „Das schnelle Bevölkerungswachstum in den armen Ländern hat bereits begonnen, die Erde unwiderruflich zu verändern“, schreiben sie in dem kürzlich erschienenen 'Weltbevölkerungsbericht 1990‘, herausgegeben vom Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA). „Möglicherweise wird unser Handeln in diesen Jahren über die Zukunft der Erde als Lebensraum für den Menschen überhaupt entscheiden.

Wenn die „Bevölkerungsexplosion“ nicht eingedämmt werde, so wird eindringlich gemahnt, sei der Kollaps unseres Ökosystems vorprogrammiert. Neu ist diese Verknüpfung von Familienplanung und Umweltpolitik wahrlich nicht. In den letzten beiden Jahren ist sie geradezu zum Lieblingsthema entwicklungspolitischer Institutionen avanciert. Von der Weltbank bis zum BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit) wuchs die Begeisterung für die Idee, daß mit Dreimonatsspritzen und Hormonimplantaten in den Körpern von Frauen aus der Dritten Welt der Regenwald und „unser“ Weltklima gerettet werden könne. Der UNFPA hat nun die „Schlüsselrolle“ der Bevölkerungsentwicklung für die Umwelt ins Zentrum seines diesjährigen Berichts gerückt.

Um sie zu verdeutlichen, wird weit in die Zukunft geschaut: 5,3 Milliarden Menschen zähle die Weltbevölkerung heute, eine weitere Milliarde werde im nächsten Jahrzehnt dazukommen, und während des nächsten Jahrhunderts werde sie sich wahrscheinlich verdoppeln, möglicherweise sogar verdreifachen - wenn es nicht gelingt, dieses rasche Wachstum mit bevölkerungspolitischen Programmen zu bremsen.

In Bangladesch zum Beispiel wäre dann, am Ende des 21.Jahrhunderts, die Bevölkerungsdichte pro Hektar Ackerland doppelt so hoch wie derzeit in den Niederlanden. Vielleicht sogar noch höher, da berücksichtigt werden müsse, „daß Land durch eine Erhöhung des Meeresspiegels als Folge einer erwärmten Erdathmosphäre verloren gehen könnte.“ - Der von den Industrieländern produzierte „Treibhauseffekt“ als Argument für bevölkerungspolitische Programme in der Dritten Welt? Sollen sich die Menschen in Bangladesch allen Ernstes bei ihrer Familienplanung an den globalen Umweltkrisen orientieren, welche die Produktions- und Lebensweise der Industrieländer in Zukunft hervorrufen wird?

Solche Fragen werden in dem Bericht nicht gestellt, statt dessen übt man sich in simpler Arithmetik: „Je mehr Menschen, desto größer ihr Einfluß auf die Umwelt.“ So einfach ist das. Weil der größte Teil der Menschheit in der Dritten Welt lebt, und weil sich die Bevölkerung dort am schnellsten vermehrt, trägt sie natürlich die Hauptverantwortung für die wichtigsten Determinanten der globalen Umweltkrise: die Zerstörung der Böden durch Erosion, Überschwemmung, Versalzung und Alkalisierung; die Waldrodungen und die Klimaveränderungen.

Kein Wort über die Geschichte der Bodenerosion in Afrika, Asien und Lateinamerika, die mit der großflächigen Abholzung der Wälder durch die europäischen Kolonialmächte und mit der Zerstörung der traditionellen Produktionsformen begann. Kein Wort über die Ursachen der Bodenversalzung etwa, die dort am stärksten auftritt, wo Experten der Industrieländer riesige Staudamm- und Bewässerungsprojekte in die Landschaft gebaut haben. Und keine Frage nach den treibenden Kräften der Waldzerstörung: der japanischen und westlichen Holzindustrie zum Beispiel, die den größten Teil des südostasiatischen Regenwaldes vernichtet.

Am spannendsten liest sich der Bericht dort, wo es um die drohenden Klimaveränderungen geht. Hier kommt der UNFPA nicht ganz um die Tatsache herum, daß die Industrieländer den Löwenanteil an FCKWs, Stickoxiden, Methangas und Kohlendioxid in die Athmosphäre pusten. Aber: „In den letzten 35 Jahren sind die CO2-Emissionen pro Kopf in den Entwicklungsländern jedes Jahr um 2,4 Prozent gestiegen. Mit steigendem Einkommen nähern sich Lebensweise und technologischer Entwicklungsstand denen in Europa, Nordamerika oder Japan an (...) Immer mehr Menschen werden ein Auto ihr eigen nennen (...) Ein großer Teil dieses Wachstums wird sich in den Entwicklungsländern einstellen, denen zur Zeit nur 12 Pronzent der Autos gehören.“

Folgt daraus, daß die Industrieländer ihren Lebensstil, ihre Produktionsweise und deren Einfluß auf die Dritte Welt überdenken und ändern müssen? Nein: daraus folgt, daß die „Fruchtbarkeitsrate in den Entwicklungsländern von jetzt durchschnittlich 4,2 Kindern pro Frau auf 3,2 Kinder pro Frau (2000 - 2005) und schließlich 2,3 Kinder pro Frau (2020 - 25)“ gesenkt werden muß. Das wäre ja noch schöner, wenn sich ausgerechnet der Teil der Menschheit den Grenzen unseres Ökosystems anpassen müßte, der den größten Teil der Ressourcen verbraucht und am meisten zur Zerstörung der Erde beiträgt!

Doch - Polemik beiseite - bringt das hohe Bevölkerungswachstum im Süden nicht tatsächlich gigantische Probleme mit sich, die schließlich auch die Chancen einer ökologischen Neuorientierung des Nordens infrage stellen? „Die Umweltpolitik“, schreibt Horst Bieber in der 'Zeit‘ zum neuen Weltbevölkerungsbericht, „ist machtlos gegen jene lebensgefährlichen Eingriffe in die Natur, mit denen immer mehr Menschen ihr Überleben sichern wollen - ihr Leben hier und heute, ohne Blick auf die Zukunft.“ Und: „Die Menschen fressen den Fortschritt auf.“

Unbestritten ist, daß das Gleichgewicht zwischen Gesellschaft und Natur auf allen Kontinenten bedrohlich gestört ist. Das teilweise sehr rasche Bevölkerungswachstum in den Ländern der Dritten Welt ist eine Dimension dieser Krise. Die Menschen, die in den Augen des 'Zeit' -Journalisten Horst Bieber „den Fortschritt auffressen“, könnten ihm jedoch, würde er ihnen zuhören, von der umgekehrten Erfahrung berichten: der Fortschritt frißt die Menschen auf. Er zerstört ihre Wälder, raubt ihr Land, vergiftet ihre Flüsse, entwertet ihre Kultur und untergräbt dadurch auch ihre Fähigkeiten, die Bedingungen ihrer sozialen und kulturellen Entwicklung mit „Blick auf die Zukunft“ zu gestalten.

Europa war der erste Kontinent, der die Kapazitäten seines Ökosystems augenfällig überschritten hat, und nach wie vor wird der „Fortschritt“ dieses Kontinents vom Zugriff auf die natürlichen Ressourcen der anderen Kontinente genährt. Wollen die Länder des Südens einen Weg finden, sich im Gleichgewicht mit den Kapazitäten ihrer eigenen Ökosysteme zu entwickeln, dann können sie sich dabei jedenfalls nicht am Modell des Nordens orientieren, dessen Geschichte bis heute die eines globalen ökologischen Raubzuges geblieben ist. Hier muß das umweltpolitische Nachdenken des Nordens ansetzen, bevor glaubwürdig - und ohne ökoimperialistische Bestrebungen - über die Probleme des Bevölkerungswachstums im Süden geredet werden kann.