Die Heimkehr des verlorenen Vaters

De Gaulle-Nostalgie in Frankreich: die neue Unübersichtlichkeit verlangt nach Mythen-Recycling / Heute vor 50 Jahren rief der General zur „Resistance“  ■  E S S A Y

Endlich. Der General ist wieder da. Der mit der Nase, wir erinnern uns dunkel. Überall in Paris hat der Bürgermeister sein Bild aufgehängt. Überm Waschsalon Händeschütteln mit Adenauer, an der Stadtautobahn ein Küßchen für die Jugend und an Rathaus und Louvre bunte und Bewegte Bilder: Charles de Gaulle - überlebensgroß und ganz nah. Vergessen sind altväterliche Arroganz und Ignoranz gegenüber den Studenten des Mai, längst vergeben die Unabhängigkeit Algeriens und die maßgeschneiderte Präsidialverfassung von 1958. Im ganzen Land wird heute der „Appell vom 18. Juni“ vor fünfzig Jahren zelebriert, indem de Gaulle von London aus zum Widerstand gegen den Kollaborateur Petain und die deutschen Besatzer aufrief. Und ganz wie 1944 - nach der Befreiung schießen allüberall, besonders jedoch auf der Linken, Gaullisten aus dem Boden.

Regis Debray, der zum Präsidentenberater geläuterte Ex -Guerillero und Essayist, sagte sich rechtzeitig zum Jahrestag endgültig von seinem Herrn Mitterrand los und erklärte sich zum Linksgaullisten: „Er (de Gaulle) hat das außergewöhnliche in den gewöhnlichen Lauf der Dinge eingebracht. Es wäre schade, wenn die Linke das Gegenteil täte.“ Und mit feuchter Feder resümiert auch Jean Daniel, der Herausgeber des linksliberalen 'Nouvel Observateur‘: „Offenbar brauchen die Franzosen - zumindest jene über 30 einen nationalen Helden, der der Nation einen Sinn gibt.“ Kein Zweifel: Frankreich ist mit „Tonton“ („Onkelchen“) Mitterrand nicht mehr zufrieden und beginnt sich wehmütig des verlorenen Vaters zu besinnen...“

Aber so ist es eben: von einer untergegangenen Welt bleiben nur die Schatten und spuken durch die Köpfe. Untergegangen ist das Europa de Gaulles. Jenes sorgsam ausbalancierte Kartenhaus, in dem eine starke Sowjetunion die Teilung Deutschlands garantierte, die USA für die Sicherheit Westeuropas einstanden, und in dem Frankreich trotz und wegen des geteilten Wirtschaftsriesen am anderen Rheinufer naturgemäß die politische Führung zufiel. All diese Voraussetzungen sind passe: die Stärke Moskaus ebenso wie der Verteidigungswille der USA, von der deutschen Teilung ganz zu schweigen.

Also: Adieu mon General? Nein, ganz im Gegenteil. In der allgemeinen Verunsicherung, die Frankreichs Strategen angesichts der neuen Weltlage ergriffen hat, suchen sie Halt beim bewährten Alten. „Was Deutschland betrifft - schlagt nach bei de Gaulle“, titelt 'Defense Nationale‘, Sprachrohr des Verteidigungsministeriums. Deutscher Verzicht auf Atomwaffen und Einbindung in eine diffuse europäische Sicherheitsordnung - das seien die Rezepte des Alten in der neuen Zeit. Ob das sture Bebrüten von la bombe und ein auf militärische Stärke fixiertes Denken die besten Voraussetzungen für eine Außenpolitik der Neunziger sind? Wir werden sehen. Zur Zeit dient gaullistische Strategie vor allem dazu, die Wiener Verhandlungen über Truppenreduzierungen solange aufzuhalten, bis über die westeuropäische Verteidigungsorganisation mehr Klarheit geschaffen wird.

Kurioserweise war es ausgerechnet ein US-Politiker, der Anfang Mai den Auftakt zur flächendeckenden Rehabilitierung des sprichwörtlich antiamerikanischen Generals übernommen hat: Henry Kissinger. Ein wiederauferstandener de Gaulle, so schrieb er im 'Herald Tribune‘, wäre heute Atlantiker. Big Charlie hätte „die politische Einigung Europas beschleunigt und die Vorzüge des atlantischen Bündnisses wiederentdeckt“

-all dies wohlgemerkt nicht aus kosmopolitischen Erwägungen, sondern um eine deutsche Dominanz in Europa zu verhindern.

Als die Vierte Republik 1958 in der Sackgasse des Algerienkrieges steckte, verpaßte der bescheidene Staatsmann („Frankreich - das bin ich“) seinem Land eine Präsidialverfassung, die das Parlament und jedes demokratische Gegengewicht auf einmalige Weise entmachtete. „Faschismus“ riefen da die Kritiker. Heute bekennt Francois Furet, Revolutionshistoriker und Vordenker der antigaullistischen „Zweiten Linken“ von damals, reuig, sich getäuscht zu haben: De Gaulle habe mit seiner Republik den „parlamentarischen Absolutismus“ beseitigt, unter dem Frankreich seit der Revolution gelitten habe. „Die Verfassung der Fünften Republik hat die Umstände ihrer Geburt blendend überlebt, ja sie hat sich bei den Franzosen eine nahezu generelle Achtung erworben, wie sie noch kein Verfassungstext seit 200 Jahren genossen hat.“ Und auch der schärfste Kritiker des General von damals, auch Fran?ois Mitterrand hat bis heute nichts unternommen, um den Absolutismus der Exekutive zu mildern, der für das Verschwinden der Zivilgesellschaft in Frankreich mitverantwortlich gemacht wird.

Die Linke hat es sich in de Gaulles Verfassung bequem gemacht, ohne jedoch - so die Kritik Regis Debrays - den ideologischen Zement geliefert zu haben, auf den die Republik nicht verzichten könne, wenn sie nicht von TV -Flachdenkern und Taschenrechnern beherrscht werden will. Wenn jetzt „mon General“ als hehre Lichtgestalt präsentiert werden kann, ohne Gähnen oder allgemeine Heiterkeit auszulösen, wenn tagtäglich nach „Visionen“ verlangt wird, dann auch deswegen, weil Politik im realsozialdemokratischen Frankreich Mitterrands zum trüben Hantieren mit Geld und Medien heruntergekommen ist.

Politik - das sind Parteitage, die von kleinkarierten Karrieristen bestimmt werden, wie es die Sozialisten in Rennes vorführten; das sind Premierminister, deren Arbeitstag mit dem Studium der letzten Umfragen beginnt; und das ist ein politisches Establishment, das sich selbst amnestiert, wenn es krumme Geschäfte in Sachen Parteienfinanzierung getrieben hat. Selten zuvor waren in der Republik die Wahlenthaltungen so hoch und das Vertrauen in die Politiker - glaubt man den Umfragen - so gering wie in diesem Frühsommer. „Le Pen ist die schwarze Seite einer Krise der Politik. Der untrügliche Zeuge, daß die Autorität der Politik langsam abbröckelt in einem Land, wo das Verhältnis zu ihr wesentlich ist für die nationale Identität“, schreibt Serge July in 'Liberation‘.

Dieser Mangel an Politik, an Mut zum Unpopulären, an alternativen und klaren Konturen ist Dünger für Le Pen, der sich gegenüber dem Konsens der Seichten mit Leichtigkeit als „das ganz andere“ profilieren kann. Und zugleich Nährboden jener klammheimlichen Sehnsucht nach dem Patriarchen de Gaulle, für den Geschichte und Politik noch eins waren, und der seine, also Frankreichs Größe derart ungeniert in Szene zu setzen wußte, daß alle nationalen Traumata des Nachkriegs -Frankreichs übertönt wurden. Denn natürlich sind nicht allein die Politiker für ein politisches Defizit zur Verantwortung zu ziehen. Wenn die distanzierte Achtung, die einem „Onkelchen“ entgegengebracht wird, nicht mehr zu genügen scheint, wenn jetzt nach einem symbolischen Übervater gerufen wird, dann wirft dies ein bedenkliches Licht auf die französische Gesellschaft im Jahre Zehn Mitterrands. Große Männer braucht man nur in einem Land von Zwergen.

Alexander Smoltczyk