Tag der deutschen Einheit verschoben

Volkskammer verweist Antrag auf sofortige Vereinigung nach Artikel 23 in die Ausschüsse / Überraschende Zweidrittelmehrheit hatte zuvor Beratung des DSU-Antrages zugestimmt / Debatte unter dem wachsamen Auge von Bundeskanzler Helmut Kohl  ■  Aus Berlin Dietmar Bartz

Die Volkskammer hat am Sonntag nachmittag einen Antrag zum sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 in die Ausschüsse verwiesen. Überraschend hatte zuvor am frühen Nachmittag eine Zweidrittelmehrheit der Volkskammer -Abgeordneten in Ost-Berlin einem Antrag der DSU zugestimmt, den sofortigen Beitritt der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 zu beraten.

Ursprünglich sollte auf der Sondersitzung das umstrittene Treuhandgesetz verabschiedet werden, mit dem die Privatisierung des volkseigenen Vermögens geregelt werden sollte. Außerdem waren Verfassungsänderungen beantragt worden, um die DDR-Konstitution an die Erfordernisse des Staatsvertrages anzupassen.

Die Initiative für den sofortigen Anschluß war am Freitag vom Volkskammer-Vizepräsidenten Wolfgang Ullmann (Bündnis90/Grüne) ausgegangen; er hatte in seiner Fraktion eine knappe Mehrheit dafür erhalten.

Nachdem der Verfassungsentwurf des Runden Tisches in der Volkskammer abgelehnt worden war, hatten Ullmann und Demokratie-Jetzt-Fraktionär Konrad Weiß für eine Übernahme des Grundgesetzes plädiert, um überhaupt wieder eine funktionierende Verfassung zu haben. Am Sonntag mittag kündigte Weiß einen interfraktionellen Antrag an die Volkskammer an, dem sich Abgeordnete von Bündnis-90/Grüne, CDU/DA und SPD angeschlossen hatten.

Nach stundenlangen Krisensitzungen der Fraktionen landete die Ehre, den Antrag auf Anschluß einzubringen, schließlich beim rechten Flügel der Volkskammer. Die SPD- und CDU -Abgeordneteten hatten ihre Unterschrift unter das Papier wieder zurückgezogen, wodurch die erforderliche Mindestzahl von Abgeordneten nicht mehr erreicht worden war - die DSU sprang ein. Weil der Antrag nicht rechtzeitig beim Präsidium der Volkskammer eingegangen war, wurde die Zweidrittelmehrheit nötig, um ihn auf die Tagesordnung zu nehmen. Die DSU-Fraktion erhielt 267 Ja-Stimmen, vor allem aus den konservativen Lagern und der SPD, 92 Abgeordnete überwiegend PDS und SPD - stimmten dagegen. Geteilt zeigte sich auch die Fraktion Bündnis90/Grüne.

Bundeskanzler Kohl nahm nach der gemeinsamen Sitzung der beiden deutsche Parlamente zum 17. Juni erstmals an einer Volkskammer-Sitzung teil. Allerdings verließ er vor Abschluß der Debattte die Gästetribuüne wieder. Begleitet wurde Kohl von Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und Kanzleramtsminister Rudolf Seiters, der auf westdeutscher Seite die Verhandlungen zum Staatsvertrag geleitet hatte. Wesentlich weniger Applaus als diese erhielten der SPD -Vorsitzende Hans-Jochen Vogel und die Grünen-Politikerin Petra Kelly.

In der Aussprache forderte Ministerpräsident Lothar de Maiziere einen zweiten Staatsvertrag, in dem die genauen Modalitäten des Anschlusses festgehalten werden. Richtig sei es zwar, am Tag der deutschen Einheit ein klares Bekenntnis abzugeben. Zunächst müßten aber Länderstrukturen geschaffen werden; Innen- und Außenpolitik müßten „sorgfältig und psychologisch vertretbar verknüpft“ werden. Er sprach sich für eine Überweisung des Antrages an die zuständigen Volkskammer-Ausschüsse aus.

SPD-Außenminister Markus Meckel befürwortete die Überweisung ebenfalls. Meckel hatte am Freitag gegenüber der Nachrichtenagentur 'adn‘ erklärt, der Antrag auf Beitritt „wäre eine Katastrophe. Wir würden auf keinen Fall zustimmen.“ Meckel selbst hatte gegen den DSU-Antrag auf Beratung des Punktes gestimmt, während zahlreiche seiner FraktionskollegInnen die Debatte in der Volkskammer wollten.

Ob das Gesetz über die Treuhandanstalt am Abend beraten werden würde, war ebenfalls noch unklar. Siehe auch

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