„Die Frau ist eine Fremde“

■ Anna Rheinsbergs biographische Annäherungen an drei Schriftstellerinnen

Kriegs/Läufe - der Titel dieses Buches ist Provokation und Programm zugleich. Während der Liebhaber biographischer Prosa üblicherweise auf den Lebenslauf als vermeintlich sinnstiftendes Ordnungsprinzip rechnen kann, setzt Kriegs/Läufe Gedanken an Unruhe, Chaos und Gewalt frei. Es geht um Spuren dreier Frauenleben, die mit solchen Assoziationen genauer gekennzeichnet sind als mit der naivharmlosen Vorstellung vom Leben als einem Lauf zwischen Start und Ziel. Es sind biographische Erkundungen in einer eigenwilligen Mischung aus Essay und sehr poetischer Prosa. Sie gelten drei Frauen, die alle kurz vor 1900 geboren sind und in Schreiben und Leben an den Abenteuern und Exaltationen des Aufbruchs in die kulturelle Moderne teilgenommen haben. Zwei dieser Frauen ist man gewohnt, als Frauen an der Seite bekannterer avantgardistischer Schriftsteller zu identifizieren: Emmy Ball-Hennings (verheiratet mit dem Dada-Mitbegründer Hugo Ball) und Claire Goll, Ehefrau des Lyrikers Yvan Goll. Der Name der dritten, Else Rüthel, ist heute wohl nur noch Spezialisten der deutschen Literatur der zwanziger und dreißiger Jahre vertraut.

Gemeinsam ist ihnen, daß ihr Leben eine atemlose Suche war, voll von ungestilltem Hunger nach Erfahrung, Kunst, Identität. Eine Suche, die zugleich Flucht war aus den unterschiedlich möblierten Gefängnissen der Herkunft, des Geschlechts, des Körpers. Die großen Städte (Berlin, München, Paris) haben sie angezogen. Ihre Straßen und Cafes, die Kabaretts und das Theater, die Boheme und die Drogen versprachen Gegenwelten, verhießen Offenheit. Vagantinnen und nicht kleinbürgerliche Ehefrauen wollten sie sein, immer unterwegs, um die Unrast zu stillen. Starre Selbstinszenierungen als Frauen (und Witwen) ihrer Dichter -Männer, zum Teil auch religiöse Schwärmerei und Mystizismus, die sich später zeigten, verraten freilich, wie wenig diese Frauen in den Metropolen ihre Orte als Künstlerinnen finden konnten. Ihr Ich spricht in fremden Zungen. Ihr Leben erscheint in Anna Rheinsbergs Buch als Collage, in der Fremdes und Eigenes sich mischen, ja, in der Eigenes durchs Fremde hindurch gelesen werden muß. „Sie hatte früh ein Ich. Sie nannte es Gott. Sie hatte für sich selbst keinen anderen Namen gewußt“, so endet das Emmy Ball -Hennings (1885 bis 1948) gewidmete Kapitel, das eine Frau zeigt, die wie ein weiblicher Woyzeck wirkt. Sie sucht nach einer Sprache für ihren Schmerz, aber auch für ihre Wünsche nach Entgrenzung. Der Traum wird ihr zur Rede, zu einer Rede freilich, die Fremdheit und Isolation nur noch verstärkt. „Die Frau ist eine Fremde. Sie erkennt nicht. Sie ist ohne Bild von sich, und daher auch ohne Gesicht.“ Der Mann, der Gott, das Heilige geben ihrer Reise später erst die Ziele.

Claire (Studer) Goll (1890 bis 1977) stellt ebenfalls ihre eigene literarische Arbeit hinter die des Mannes, der ihre große Leidenschaft wird. Im großbürgerlichen Elternhaus hatte sie eine Erziehung in Folter und Schmerz durchlitten. Die sadistische Mutter quälte die Tochter mit körperlichem Lustgewinn. „Aber eben dieser Körper ist Claire Studer Stimme, Schrift und Fetisch, leidenschaftlich ersehnt. Fetisch Frau, den sie in all ihren späteren Romanen, Novellen und Erzählungen unerbittlich verfolgt.“ Der negativen Fixierung auf den weiblichen Körper steht die positive auf den Körper des Mannes gegenüber: „Heimat finden im Körper des Mannes, Geborgenheit, Traum und Schrift - ihr eigener ist ihr fremdes Land, unstillbare Scham, Verzicht und Schmerz.“

Während in den beiden ersten Kapiteln Anna Rheinsberg mit ihrer bewußt auf jähe Schnitte und die Kontraste des Fragmentarischen setzenden Darstellungsweise eine Plausibilität und Authentizität erzeugt, daß man Sätze und Absätze zitieren möchte, ist das letzte Kapitel über Else Rüthel (1899 bis 1938) weniger überzeugend. Dieses Leben wird nicht in gleicher Weise von innen heraus lesbar gemacht, sondern geradezu zugeschüttet mit einer Halde allzu glatter, eingängiger Formulierungen, die seine Widersprüche und seine Zerrissenheit nicht preisgeben: „Ein Leben der Extreme. Leben im Extremen“, „Liebes- und Wortkünstlerin“, „Ein Leben an der Peripherie“, „Leben als Fackel. Nur ja keine Sparflamme! Stillstand ist Tod“, „Else Rüthel ist ein Irrlicht“. Das bleibt doch sehr an der Oberfläche, gibt allenfalls Stichworte für ein Porträt. Schade, denn gerade über diese „Schriftstellerin, Kabarettistin, Rundfunksprecherin und Rezitatorin im Deutschland der zwanziger und frühen dreißiger Jahre“ stellt Anna Rheinsberg fest: „Sie hat ihren Namen gewußt. Idee/Inszenierung ihrer Schrift und ihres Ichs. Riskant, bewegt.“ Als ein Hinweis auf die vergessene Else Rüthel, von der am Schluß des Bandes auch ein Text zu lesen ist, hat freilich auch dieses Kapitel seinen Wert.

Anna Rheinsberg hat mit diesem sehr liebevoll ausgestatteten Buch mehr als ein Stück Literaturgeschichte der Frau geschrieben. Indem sie eine bei allem Erschrecken faszinierend zu lesende Revue der Beschädigungen gibt, die diese drei Frauen auf ihrem Weg zur Sprache, zur Schrift und (mit Einschränkungen) zu ihrem Ich erlitten, sagt sie etwas über vormals (und immer noch?) herrschende Geschlechterverhältnisse. Sie setzt hier mit den Mitteln der literarischen Biographie fort, was auch schon ihre Gedichte, Erzählungen und das schöne Lesebuch Bubikopf mit Texten aus den zwanziger Jahren auszeichnete: die engagierte Parteinahme für Frauen in Verbindung mit historischem Sinn, mit Gespür für Milieus und sprachliche Valeurs, mit Kunstverstand also. Ein Glücksfall.

Heribert Seifert

Anna Rheinsberg: Kriegs/Läufe. Über Emmy Ball-Hennings, Claire Goll, Else Rüthel. Persona-Verlag, 104 Seiten, 20, DM