Gefangene der Vergangenheit

Das ungeliebte Brasilien gewinnt gegen Schottland mit 1:0 und wird mit drei Siegen Gruppenerster  ■  Aus Turin Matti Lieske

„Brasilien ist ein Gefangener seiner Vergangenheit“, klagt Sebastiao Lazaroni, Trainer der „Sele?ao“, bei jeder Gelegenheit. Da der Name des dreifachen Weltmeisters Synonym sei für mitreißenden Fußball, werde es ihm nicht verziehen, wenn er einfach nur Zweckfußball spiele, auch wenn er gar nicht anders könne und zudem erfolgreich damit sei.

Um der zornrasenden Öffentlichkeit zu Hause, die jeden Tag aufs neue wie ein Hyänenrudel über Team und Coach herfällt, ein paar Brocken hinzuwerfen, hatte Lazaroni eigentlich vorgehabt, die Mannschaft für das Spiel gegen Schottland völlig umzukrempeln. Nur Alemao und Libero Mauro Galvao sollten ihre Plätze behalten, alle anderen ausgetauscht werden. Aber die „Mafia“, wie die brasilianische Presse die bei italienischen Vereinen tätigen Spieler nennt, benötigte nur eine halbe Stunde, ihrem Chef diese Idee wieder auszureden. „Das kommt überhaupt nicht in Frage“, grollte Careca, „wir sollten so wenig wie möglich tauschen“. Lazaroni, der es sich kaum leisten kann, wenn er schon die ganze Welt gegen sich hat, auch noch die Unterstützung der Spieler zu verlieren, gab klein bei. Die Revolution war gescheitert.

Einen Wechsel ließ er sich allerdings nicht ausreden. Anstelle von Muller sollte als Zuckerl für die Kritiker der von Presse und Fans stürmisch geforderte Romario stürmen. Dem Torjäger vom PSV Eindhoven war vor drei Monaten beim 9:2 in den Haag von einem Verteidiger mit dem aufschlußreichen Namen Marco Gentile der Knöchel in Stücke getreten worden, und er hatte seither kein Spiel bestritten. Romarios Comeback fand ebenfalls nicht den Beifall Carecas, der wegen gemeinsamer alter Zeiten in Sao Paulo Muller vom AC Turin als Partner bevorzugt. Wenn schon mit Romario, meinte Careca, dann mit drei Spitzen, also auch mit Muller, er fühle sich vorn ohnehin ziemlich einsam. Muller selbst war ebenfalls ungehalten und murrte: „Einen Spieler testet man im Training und nicht in einer solch wichtigen Partie.“

Gefangene ihrer Vergangenheit sind auch die Schotten. Sie haben die miserabelste WM-Bilanz unter der Sonne, keine Mannschaft ist so oft wie sie in der ersten Runde ausgeschieden. Ihre Mißerfolgsquote beträgt stolze 100 Prozent. Sechsmal haben sie an einer WM teilgenommen, jedesmal flogen sie in der ersten Runde raus. Von 21 Spielen haben sie gerade vier gewonnen, und sie machten auch im neuen „Alpenstadion“ von Turin nicht den Eindruck, als wollten sie diesmal höher hinaus.

Von vornherein waren die Schotten auf ein, wahrscheinlich qualifizierendes, Unentschieden aus, sie taten buchstäblich nichts, um das brasilianische Tor in Gefahr zu bringen. Und die unverwüstlichen, robusten Burschen von früher scheinen sie auch nicht mehr zu sein. „Wir waren von der hektischen, kräftezehrenden Partie gegen Schweden noch völlig ausgelaugt“, machte Coach Andy Roxburgh als Entschuldigung für den schlappen Auftritt geltend. Der war immerhin drei Tage vorher.

Die Schotten hatten jedoch Glück, daß es bei Brasilien zwar besser lief als gegen Costa Rica, was vor allem am herausragenden Alemao lag, aber allzuviel Torgefahr ging auch von ihnen nicht aus. Careca ignorierte Romario, wo es nur ging, und wenn der kleine Rekonvaleszent mal in Ballnähe kam, zeigte er wenig Durchsetzungsvermögen; einen Fakt, den Lazaroni später mit einem genüßlichen Lächeln der Genugtuung quittierte. „Wir werden ihn jetzt im Training hundertprozentig fit machen“, sagte er, was heißen dürfte, daß die WM für Romario zu Ende ist.

In der 65. Minute kam Muller für Romario, und als Roxburgh schon glaubte, daß „das Match ruhig auslaufen würde“, schoß der Eingewechselte in der 81. Minute das 1:0. Torwart Leighton konnte einen tückischen 20-Meter-Schuß von Alemao nicht festhalten, Careca und Gillespie stocherten den Ball gemeinsam über den am Boden liegenden Keeper hinweg und Muller stupste ihn ins Netz.

Erst jetzt wurden die Schotten wach, und „Mo“ Johnston hatte Sekunden vor Schluß noch den Ausgleich auf dem Fuß. Doch Claudio Taffarel konnte endlich einmal beweisen, daß auch er ein guter Torhüter ist, und lenkte mit mächtigem Sprung den Schuß aus kurzer Distanz übers Tor. Den Schotten blieb nur noch die Mathematik, und wenn diese Zeilen erscheinen, ist klar, ob ihnen auf wundersame Weise doch noch der größte Erfolg ihrer fußballerischen Geschichte beschieden war.

Brasilien:Taffarel - Mauro Galvao - Ricardo Gomez, Ricardo Rocha - Jorginho, Alemao, Dunga, Valdo, Branco - Romario (65. Muller), Careca

Schottland: Leighton - McLeish, McPherson, McKimmie, Malpas (77. Fleck) - Aitken, McCall, McStay, MacLeod (39. Gillespie) - Johnston, McCoist

Zuschauer: 62.502

Tor: 1:0 Muller (82.)