Abbitte an Kohl oder der Mangel an Alternativen

Die deutsche Einheit hat die Vordenker überrollt und das Nachdenken zum Hinterherdenken gemacht. Die abgefahrenen Züge kommen an, pünktlich. Der Staatsvertrag ist verabschiedet, die gesamtdeutschen Wahlen werden im Dezember stattfinden. Die Proteste gegen den Tempomacher Kohl werden schal. Die Stunde der Einheit - die Stunde der linken Melancholie? Die Stunde der tiefen Bedrückung einer schweigenden, wartenden, mißtrauischen Mehrheit? Und Kohl selbst, der standardisierte Gegenentwurf des besseren Deutschen, das routinemäßige Objekt linker Verachtung - ist nicht seine Politik erfolgreich bis in unsere alltägliche Existenz hinein? Hat er nicht, der Pragmatiker des kleinsten Nenners, alle Verfechter eines besonders vorbildlichen, besonders demokratischen, besonders multikulturellen Deutschlands als Kleingärtner ihrer Utopismen beschämt? Soll Kohl angelastet werden, daß jetzt eine hadernde Mehrheit der Deutschen, begleitet vom Mißmut des ideellen Gesamsozialarbeiters, die Schwelle einer neuen Zeit überschreitet?

Zuviel der Ehre. Die Ideenlosigkeit und der Haß aufs schlechte Neue sollte dem Erfolgspolitiker Kohl nicht auch noch in den Schoß fallen. Es genügt, seine wirklichen Erfolge zu sehen. Zeit zur Abbitte also. Kohl ist zur historischen Größe geworden. Das verschafft der Selbstgerechtigkeit, zu der er uns einlädt, selbst etwas gefährlich Bleibendes.

Es genügt bei weitem nicht, sich nur diese narzißtische Kränkung einzugestehen, daß der Kanzler sich ausgerechnet im Medium der Geschichte bewegt, das die Intellektuellen als ihr ererbtes Terrain betrachten. Kohls Erfolg geht ins Grundsätzliche, auch ohne Grundsätze, und vor allem weil er es war, der unsere Grundsätze in die Realität geworfen hat. Sie haben die Probe nicht bestanden. Kohl ist das verkörperte Desaster der Linken. Während wir auf die Eigenständigkeit der DDR pochten, war er längst dabei, sie erfolgreich zu zerschlagen; während wir auf gleichberechtigte Partnerschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit drangen, betrieb Kohl die Politik des längeren Hebels; während wir auf die großen Debatten der Gesellschaftsreform hofften, gab Kohl seiner Ministerialbürokratie carte blanche für den Anschluß. Vor allem aber - das ist das Entscheidende des politischen Erfolgs - beherrschte Kohl das Tempo. Er organisierte die Fahrpläne der abgefahrenen Züge, während wir Zeit forderten, im Namen der Besinnung, der Rettung des Erhaltenswerten in der DDR, im Namen einer selbständigen Aufarbeitung der Diktatur. Viele gute, allzu gute Gründe. Aber den Kohl hat das Leben nicht bestraft. Wieder einmal stehen sich - so können wir jetzt klagen - in Deutschland gute Argumente und Politik gegenüber. Das ist leider weniger der Politik und mehr den Ideen vorzuwerfen, obwohl man gewöhnlicherweise die Politik schilt, wenn sie taub ist für die Ideen der Zeit. Die Ohnmacht des Besser-gewußt-habens steht jedenfalls am Ende des Kohlschen Erfolgsweges.

Die Eigenständigkeit der DDR, war sie mehr als eine ideelle Projektionsfläche für Gesellschaftspolitik? Wir haben es nicht ernstgenommen, wie sarkastisch und bitter DDR -Intellektuelle über die Rettungsversuche der DDR -Eigenständigkeit sprachen. Für uns war die DDR eine pädagogische Provinz. Aber was unterscheidet die pädagogische Behutsamkeit überhaupt von der Arroganz des Anschlußpolitikers? Nichts. Im Kern jeder Pädagogik steckt die Vorstellung vom eigenen Anders-Sein, Besser-Sein. Im Kern jener gesamtdeutschen Behutsamkeit, in dem pädagogischen Eros, der sich schnurstracks aufs Eigenständige der DDR richtete, steckte die Vorstellung vom „anderen Deutschland“. In der prosperierenden Bundesrepublik hatte die Linke die Hoffnungen auf ein anderes Deutschland längst aufgegeben, wegen der Prosperität. Was im Deutschland der ersten Welt nicht möglich war, mußte doch im Deutschland der zweiten Welt Chancen haben. „DM-Nationalismus“ herrsche, urteilte Jürgen Habermas und stellte schockiert fest, daß die D-Mark „libidinös besetzt“ sei. Welch eine Entdeckung! Aber wer die Erfahrung machen mußte, von ungarischen, polnischen oder sowjetischen Kellnern immer erst an zweiter Stelle bedient zu werden, der neigt kaum zur Geringschätzung der Währungsfrage. In der Forderung nach der D-Mark steckte eine demokratische Radikalität: D-Mark, das hieß Bilanz, Abrechnung, Anerkennung und Schlußstrich. Die Massen liefen den künftigen Vormündern davon. Das chronologische Axiom, um das sich alles von der Urlaubsplanung bis zur Verfassungsfrage dreht: D-Mark in der DDR noch vor den Sommerferien. Noch nie ist der Herzenswunsch der Leute so bestimmend gewesen, angesichts eines so unabmeßbaren politischen Experiments.

Wo sollte in der DDR der Raum und die Zeit für große Debatten herkommen, wenn alle Familien in der Ungewißheit lebten, ob sie nach dem 2. Juli zu den Verlierern oder den Gewinnern gehören? Gewiß, die DDR-Opposition ist müde vom vergeblichen Anstemmen gegen den Zeitplan, und ihre Resignation ist verständlich. Die Forderung nach einer langsameren Gangart konnte kein Datum setzen. Die Linken haben alle guten Überzeugungen als Bremsklötze gegen das Tempo verbraucht. Das Tempo war das wahre Säurebad der Überzeugungen. Aber hat die deutsche Intelligenz jemals anklingen lassen, daß bei ihrer höchst ehrenwerten Sorge vor einem Vierten Reich auch die Lebenszeit der Leute zählt? Den vielen allzu guten, allzu bitteren Argumenten von Jürgen Habermas, von Günter Grass, von Antje Vollmer fehlte das Gefühl für den Zeitdruck der Menschen, die glauben, vierzig Jahre ihres Lebens verloren zu haben.

Zielte Kohls Politik nicht auf Nationalismus und aufs Vierte Reich? Wahrscheinlich. Aber seine Tempomacherei bewirkte das Gegenteil. Je schneller Kohl die nationale Vereinigung vorantrieb, desto mehr beherrschte die soziale Frage das Feld. Nicht nationaler Aufbruch, sondern Besitzstandswahrung und gesamtdeutsches Mißtrauen herrschen vor. Die nationale Karte, die die CDU ausspielt, reicht nur aus, die SPD-Fraktion zu übertrumpfen. Wenn es eine welthistorische Signatur der Vereinigung gibt, dann die der Herstellung mitteleuropäischer Normalität. Rentenberechnung, Umtauschsätze, Sozialvericherungsfragen, Miethöhen, Zinsfüße, Steuersätze beherrschen den Einigungsprozeß: Der politische Primat ist die Sozialunion, der praktische die Verwaltungsunion. Einheit zum kleinsten Nenner. Ihr Protagonist ist Kohl, ihr politisches Sprachrohr ist Lafontaine. Kohl spielt seine historische Rolle in einem Prozeß, in dem offensichtlich kein Bedarf nach historischer Größe herrscht.

Was also ist Kohl vorzuwerfen? Soforthilfen für die DDR wurden im Herbst gefordert. Was wäre denn geschehen, wenn jene Milliarden geflossen wären? Geld in die Hände jener Kombinatsdirektoren, die im Stile von Abzählreimen Leute entlassen? Subventionierung des überhohen Verwaltungsanteils bei allen Wirtschaftseinheiten? Ganz zu schweigen davon, daß bis heute noch nicht die Trennlinie zwischen Stasi und Gesellschaft klar ist?

Hören wir also auf, uns in unserem Klischee von der Kolonisierung, vom Diktat, von Großdeutschland einzubunkern. Betrachten wir die Einigung nicht als einen feindlichen Prozeß, sondern als das, was sie ist: Die größte Veränderung der Gesellschaft in den letzten Jahren! Versuchen wir nicht, in den kommenden sozialen Kämpfe die verlorenen politischen Schlachten um die Einigung nachzuholen. Wenn die Kritik an Kohls Politik ihr Recht haben soll, muß sie nach vorne gehen, in ihr muß zumindest ein wenig Neugier auf das Neue zu finden sein! Wer den Staatsvertrag als undemokratisch kritisiert, hat nur recht, wenn er sieht, daß ein geeintes Deutschland freier und demokratischer ist, als jene Zweistaatlichkeit, petrifiziert durch eine absurde Diktatur. Wer Großdeutschland verhindern will, muß sehen, daß die Einigung die Abrüstung, den Umbau der Paktsysteme und die gute Nachbarschaft bislang beschleunigt hat. Wer ein gut verfaßtes Deutschland will, muß sehen, daß die Verfassungsdebatte nicht zu Ende ist, sondern jetzt erst beginnt.

Klaus Hartung