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Wenn die Moral nur noch mit Mord aufrechtzuerhalten ist...

■ Zwei Jahre auf Bewährung für junge Mutter, die ihr ihr Neugeborenes tötete / Gericht entdeckte Vielzahl von Strafmilderungsgründen

„Möchten Sie noch etwas sagen? “ Nach zweieinhalbstündiger Verhandlung versuchte Richter Kurt Kratsch gestern der Angeklagten Manuela T. das Schlußwort in einem der ungewöhnlichsten Verfahren seiner Laufbahn einzuräumen. Manuela T. zuckte nur, von Weinkrämpfen geschüttelt; statt des vom Gericht erwarteten Schuldbekenntnisses war nur ihr leises, heftiges Schluchzen zu hören. Kurt Kratsch unterbrach die Verhandlung für fünf Minuten. Dann brachte Manuela T. mit immer noch tränenerstickter Stimme und gesenktem Kopf zwei kaum hörbare Sätze heraus. „Es tut mir alles sehr leid...“ und „ich wünschte, ich könnte die Sache rückgängig machen...“ lauteten die mühsam verständlichen Satzfetzen.

Zwei Tage lang war Manuela T. im Gerichtssaal wieder mit der „Sache“ konfrontiert worden, die sie - wie der sachverständige Psychologe in einem ausführlichen Gutachten ausgeführt hatte - mit aller Macht „an den Rand ihres Bewußtseins“ gedrängt hatte: Der Tatsache, daß sie im August letzten Jahres in der Damentoilette einer Bremer Werkzeug -Fabrik einen Jungen geboren und direkt danach mit einem Knebel aus Toilettenpapier erstickt hatte, während sich ihre nichtsahnenden Arbeitskolleginnen vor der Klotür Sorgen machten.

Vermutlich zum ersten Mal seit den polizeilichen Verhören und peinlichen ärztlichen Untersuchungen mußte Manuela T. sich während der Verhandlung mit dem auseinandersetzen, was sie getan hatte. Oder: Wie man nach den ausführlichen Zeugenbefragungen und dem Gutachten des Psychologen annehmen darf: Was ihr passiert war.

Nie in ihrem Leben, so bescheinigte der Sachtverständige Manuela T., habe sie gelernt, „Konfliktsituationen durch realitätsangemessene Handlungsstrategien“ zu bewältigen. Jede bei einiger Realitätstüchtigkeit als „Bedrohung“ zu bewertende Situation habe sie durch eine „Tendenz zur harmonischen Verfälschung“ der Wahrheit verdrängt. Immer sei Manuela T. in völlig unvorbereiteter Weise in schwierige Situationen hineingeschliddert und habe sich in „die fast magischen Hoffnung“ geflüchtet, daß nicht sein kann, was nicht sein darf und daß irgendeine höhere Macht das drohende Unheil im letzten Moment schon abwenden werde.

Manuela T.'s zweite Schwangerschaft war ein solches Unheil. Für den Vater, dem der Ruf der Familie bei den Nachbarn von jeher über das Glück der eigenen Tochter gegangen war. Für Manuela T., weil sie die Brachial-Moral ihres Vater mehr fürchtete als Polizei und Staatsanwaltschaft und die eigenen Schuldgefühle. Für ihre Mutter, Ursula T., weil sie gelernt hatte, sich dem Diktat ihres Mannes auch dort zu unterwerfen, wo sie seine Überzeugungen nicht teilte. „Es gab in der Familie niemand, der diesem Spuk von Verleugnungen und Verdrängungen ein Ende gemacht und Tacheles geredet hätte“, beschrieb der Gutachter die Ausweglosigkeit, die Manuela T. nach neun Monaten verheimlichter Schwangerschaft in die Toiletten-Zelle einer Bremer Fabrik gebracht hatte und in der ein Kind kein Kind mehr ist, sondern das letzte Beweismittel eines Vaters für die Verworfenheit seiner Tochter. Manuela T. war sich, so der Gutachter, sehr wohl des Unrechts bewußt, daß sie mit der Tötung ihres Kindes beging, aber „sie war nicht fähig, nach dieser Einsicht zu handeln.“

Manuela T. muß nicht ins Gefängnis. Das Gericht verurteilte sie gestern zu zwei Jahren Haft und einer Geldbuße von 500 Mark. Die Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Es folgte damit den im Ergebnis nahezu übereinstimmenden Plädoyers von Staatsanwaltschaft und Verteidigung. In seiner Urteilsbegründung warb Richter Kurt Kratsch ausdrücklich um Verständnis für das milde Urteil in der Öffentlichkeit. Auch für Staatsanwalt Frank Repmann und Verteidiger Herwig Troischt stand gestern nach der Beweisaufnahme fest, daß Manuela T. der Kindstötung überführt ist. Beide appellierten dennoch an das Gericht, unter der normalen Mindeststrafe von drei Jahren zu bleiben und einen „minder schweren Fall“ anzunehmen.

Nach der Urteilsverkündung huschte zum ersten Mal ein erleichtertes Lächeln über das Gesicht der Manuela T.

Vermutlich wird sie jetzt zurückkehren in ihre neue Heimat im Hessischen, in die sie sich inzwischen mit ihren Eltern vor den gestrengen Sittenwächtern im Bremer Ortsteil Rablinghausen geflüchtet hat. Zwei Tage hatten ihre Bremer Ex-Nachbarn in den Zuschauerbänken ihrer inneren Empörung tuschelnd und köpfeschüttelnd Ausdruck verliehen. In Manuela T.'s neuem Bekanntenkreis weiß niemand etwas, nicht mal ihr Verlobter. Manuela T. wird hoffen, daß das auch so bleibt.

K.S.

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