: Das Ende einer langen Tradition?
■ Seit Jahrhunderten gibt es deutsche Siedlungsgebiete in Rußland / Endet die Tradition mit einer Ausreisewelle?
Die Geschichte der Deutschen im Gebiet der heutigen Sowjetunion ist Jahrhunderte alt. Sie beginnt mit den Heerscharen der Ordensritter, die in die baltischen Länder vordrangen, dann kamen die Hanse-Kaufleute, später, unter Zar Paul I., Militärs, Wirtschaftsfachleute und Städtebauer. Die meisten Einwanderer machten sich allerdings erst unter der Herrschaft der Zarin Katharina II. auf den Weg nach Rußland. Allein zwischen 1764 und 1768 folgten 27.000 deutsche Siedler ihrem Ruf: sie sollten als „Kolonisten“ mit besonderen Privilegien die Steppengebiete der unteren Wolga besiedeln, das Land im Westen wirtschaftlich stärken, damit der Expansionskrieg im Osten geführt werden konnte. Mitte des 19.Jahrhunderts gab es bereits über 3.000 deutsche Kolonien im europäischen Rußland, bis zum Ende des Jahrhunderts entstanden weitere Siedlungen auch in Kasachstan und Mittelasien.
Die deutschen Siedler waren freie Bauern, erfolgreich und strenggläubig, die meisten Lutheraner. Nach der Volkszählung von 1897 lebten 1,8 Millionen Deutsche im zaristischen Rußland, davon 22 Prozent im Wolgagebiet und 21 Prozent am Schwarzen Meer. Ein gutes Leben hatten sie nicht immer: Unter Alexander II. wurden den Kolonisten die Privilegien genommen, sie mußten Militärdienst leisten; schlimmer noch traf sie die Russifizierungspolitik ab Ende des 19.Jahrhunderts und die Vertreibung aus Wolhynien im Verlauf des Ersten Weltkriegs.
Ein Aufatmen gab es erst 1917, als die Bürgerrechte für alle Einwohner Rußlands proklamiert wurden. In dieser Zeit entstand auch die von bürgerlichen Schichten getragene deutsche Autonomiebewegung. Im Wolgagebiet wurde sie nach der Oktoberrevolution durch das „Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet“ ersetzt. Ein Dekret Lenins vom 19.Oktober 1918 verlieh der „Arbeitskommune der Wolgadeutschen“ den Status eines „Autonomen Gebiets“. Die deutschen Siedlungen im Ural, in Sibirien, Kasachstan und im Kaukasus erhielten diesen Status nicht. Im Bürgerkrieg gerieten sie zeitweilig unter die Kontrolle der „Weißen“.
Anfang 1924 wurde das Autonome Gebiet der Wolgadeutschen zur „Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“ (ASSR) aufgewertet. Die deutschen Dörfer in der Ukraine wurden in Verwaltungsbezirken (Rayons) zusammengefaßt, in anderen Gegenden deutsche Dorfsowjets gewählt - 550 dieser Sowjets gab es 1929. In den zwanziger Jahren, als die Neue Ökonomische Politik (NEP) versucht wurde, ging es den Deutschen in den Rayons und Dörfern gut, die Bauern hatten wieder Schweine im Stall, und die Kornsäcke waren prall.
Doch ab 1929 ging es wieder abwärts - Stalin ließ die Bauern kollektivieren, die Dörfer wurden „entkulakisiert“. Die Deportation in den Norden oder in den Fernen Osten kostete auch viele deutsche Bauern das Leben, im Wolgagebiet herrschte Hungersnot. Das Land hatte sich kaum von diesen Schrecken erholt, als die großen Repressionen von 1936 bis 1938 folgten. 1937 gab es in der Sozialistischen Wolgarepublik ganze Dörfer ohne erwachsene männliche Bevölkerung.
Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs brachte neue Leiden. Noch in der Zeit des Hitler-Stalin-Paktes wurden die deutschen Einwohner der Ukraine der Krim und des Kaukasus deportiert - ein Schicksal, das dann im August 1941 auch das letzte verbliebene Gebiet der Deutschen traf. Mit der Begründung, es gebe unter den Rußlanddeutschen Tausende von Spionen, wurde die Autonome Republik der Wolgadeutschen aufgelöst. Von einem Tag auf den anderen verlud man die Bevölkerung in Züge und deportierte sie nach Sibirien und Mittelasien.
Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs blieben die Deutschen in Arbeitslagern inhaftiert und leisteten Fronarbeit in der „Arbeitsarmee“. Sie fällten Wälder in Sibirien, bauten Eisenbahnlinien in den Osten, förderten Kohle am Polarkreis. Tausende erfroren, verhungerten, starben an Seuchen.
Auch das Kriegsende brachte nicht sofort die Freiheit, die ersten Familienzusammenführungen wurden 1947 erlaubt. Erst der Besuch Adenauers in Moskau, 1955, leitete eine Wende ein. 1964 schließlich wurden die Ausnahmegesetze für Deutsche aufgehoben, Chruschtschow gewährte eine 'teilweise Rehabilitierung‘. Der pauschale Vorwurf der Kollaboration mit den Faschisten wurde zurückgenommen, die Verurteilungen aber blieben unrevidiert. So erhielten die Zwangsdeportierten keine Entschädigungen und durften nicht in ihre alten Siedlungsgebiete zurückkehren.
Die Leben in der Nachkriegszeit blieb hart für die Deutschen in der Sowjetunion. Sie lebten nicht mehr in eigenen Dörfern oder Rayons, sondern verstreut und diskriminiert, ohne eigene Schulen und Kultureinrichtungen. Folge dieser Zwangsassimilation war eine fortschreitende „Identitätskrise“, die seit Ende der 60er Jahre einerseits die Zahl der Ausreisewilligen ansteigen ließ, andererseits auch die Autonomiebewegung hervorbrachte. Nun könnte die Entscheidung des Obersten Sowjets, den Deutschen keine erneute Autonomie im Wolgagebiet zuzugestehen, das Ende der deutschen Siedlungstradition in der Sowjetunion bedeuten.
Anita Kugler
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