Weißrußland auf Konfrontationskurs zu Gorbatschow

■ Staatsschiff der UdSSR „ohne Steuermann und Anker“ / Der Parteichef der weißrussichen KP greift die Moskauer Zentrale an / Gebietsforderungen an ein unabhängiges Litauen? / Teilnahme an den 4+2-Gesprächen und Entschädigung gefordert

Moskau(ap/taz) - Der konservative Flügel der KPdSU mobilisiert seine Bataillone in den Unionsrepubliken. Jetzt hat Jefrem Sokolow, erster Sekretär der KP Weißrußlands, die Innen- und Außenpolitik der Zentrale aufs schärfste kritisiert, ohne allerdings Namen zu nennen. Sokolow ortete die Hauptgefahr für Partei und Staat nicht im bürokratischen Konservativismus sondern in der Tätigkeit „antisozialistischer, separatistischer und nationalistischer Kräfte, die die Gesellschaft unter dem Vorwand von Demokratisierung und Pluralismus moralisch zersetzen“. Das sowjetische Staatsschiff treibe ohne Kursbestimmung und habe seinen Anker verloren. Die „dramatischen Ereignisse“ in Osteuropa wirkten sich auch auf Weißrußland aus und die „gegnerischen Kräfte“, die die Kommunisten von der politischen Bühne entfernen wollten, konsolidierten sich. Die sowjetische Führung habe mehr Meisterschaft in Akten des Zerstörens als des Aufbaus an den Tag gelegt.

Der konservativ geprägten KP Weißrußlands war es bei den Wahlen zum Obersten Sowjet in Frühjahr gelungen, die Macht zu behaupten, wozu die Vorabverteilung von Mandaten an „gesellschaftliche Organisationen“ ebenso beitrug wie das gegenwärtig noch geringe politische Engagement der ländlichen Bevölkerung. Die demokratische Volksfront „Adradzhen'ne“ konnte nur in den Großstädten, vor allem in Minsk, Mandate gewinnen. Sokolows Angriff richtete sich indirekt auch gegen die litauische Unabhängigkeitsbewegung. Bereits im März hatte der Oberste Sowjet Weißrußlands erklärt, er betrachte die Grenzen, die nach der Stalinschen Annexion Litauens zu Weißrußland gezogen worden waren, als nicht mehr bindend. Die weißrussische Führung erhob Gebietsansprüche nicht nur auf einige ländliche Distrikte, die vor dem Hitler-Stalin-Pakt zu Ostpolen gehört hatten sondern auch auf die jetzige litauische Hauptstadt Vilnius, die zwischen 1921 und 1939 ebenfalls zu Polen gehört hatte. Demgegenüber hat die weißrussische Volksfront, die enge Beziehungen zur Sajudis unterhält, bis jetzt Litauens Unabhängigkeitskampf unterstützt. Auch die soeben aus den Reihen der weißrussischen Volksfront gegründete national -demokratische Unabhängigkeitspartei scheint an dieser Linie festhalten zu wollen. Sokolow meldete schließlich ein Mitspracherecht Weißrußlands, das in der UNO über einen eigenen Sitz verfügt, an den „äußeren Aspekten“ der deutschen Frage an. Es geht unter anderem um Entschädigungsansprüche Weißrußlands gegenüber Deutschland wegen der Nazi-Okkupation. Obwohl die Sowjetunion schon in den 50er Jahren auf Reparationen verzichtet hat, könnten Gorbatschow und Schewardnadse auch hier - wenn die Konservativen es wollen - unter Druck geraten.

CS