Eine Art von Musik

■ Mit dem Schweizer Autor p.m. sprach Klaus Farin

Klaus Farin: Deine bolos sind im Grunde agrarische, postindustrielle Idyllen. Sie bestehen aus Weiden, Ackerland, Fischgewässern, Jagdgründen u.ä., die gemeinsam eine Selbstversorgung garantieren sollen. Mir geht es da jedoch eher wie Andy, deinem Helden aus tripura transfer: Ich brauche zwar nicht unbedingt Autoabgase um mich herum, aber Großstadt. Und ich hab auch keine Lust, Bauer zu werden. Passe ich in dein Szenario?

p.m.: Unbedingt. Ich will auch Großstadt. bolo'bolo ist ein Versuch, die Großstadt zu retten, die ja ökologisch gefährdet ist. Und man muß auch sehen, daß unsere Großstädte nur auf dem Boden von 200 Jahren Kolonialismus funktonieren, daß wir dabei sind, diesen Planeten zu ruinieren, damit die Großstädte funktionieren. Das kann man nicht mehr lange machen. bolos wären die Chance, diese Städte zu retten. Denn es sind im Grunde Stadtteilkulturen, wie sie in den frühen Zeiten der Stadtkultur ganz lebendig waren, oder? Stadtleben bedeutet ja eigentlich einen intensiven menschlichen Austausch mit sehr vielen Leuten, die sehr viele verschiedene Sachen machen, so daß dir nie langweilig wird. Das stirbt aber in den Städten, oder? Man verliert ja heute die meiste Zeit mit der Abwicklung irgendwelcher Arbeiten oder Geschäfte, und das Stadtleben spielt sich dann nur noch abends ganz schnell ab. Ich finde, das könnte auch 24 Stunden am Tag stattfinden, langsamer, aber intensiver, kommunikativer.

Dein bolo'bolo-Konzept taucht erstmals in tripura transfer (1982) auf. Was hat dich damals beeinflußt?

Das Ende der Züri-Bewegung. Ich war ja schon '68 dabei, APO, die Parteigeschichten, dann die Anti-Atom-Bewegung, dann Hausbesetzungen und schließlich Anfang der 80er diese Verspottungsbewegung, die sehr reinigend wirkte für die Atmosphäre, aber das Resultat war ja gleich null, und so endete es sehr tragisch. Solange die Bewegung dauerte, war die Drogenszene in Zürich relativ sanft und klein, nicht sehr brutal. Als die Bewegung '82 an ihrem Ende angelangt war, kam eine sehr große und brutale Drogenszene in Zürich auf, viele aus der Bewegung landeten im Elend, in Sinnlosigkeit, und auf der anderen Seite entstand diese Überanpassung von Leuten, die ihr Elend mit Krawatte, Aktenköfferchen und Champagnerfrühstück versteckten. Ich hatte im AJZ (Autonomes Jugendzentrum, zunächst Zentrum des Widerstandes, dann der Junkies und aller 'Aussortierten‘) gearbeitet, Theaterstücke geschrieben, die in diesem Umfeld aufgeführt wurden, beim illegalen Radio mitgemacht ...

Warst du damals schon Lehrer?

Ja, sicher. Ich bin zum Teil gemeinsam mit meinen Schülern zu den Demonstrationen gegangen. Die Polizei hat die Generationen zusammengeschweißt, denn die Gummigeschosse gingen auf alle los, oder? Es waren viele Lehrer dabei, auch die Eltern der Jüngsten aus der Bewegung. Während die Jungen sich eher mit der Polizei prügelten, haben wir Ältere eher Infrastrukturarbeiten geleistet, den Druck der Zeitungen organisiert usw. Aber dann kam eben das tragische Ende. Jedes Jahr starben in Zürich 50 Leute an Drogen, andere starben seelisch oder wurden Yuppies. Das war der eine Punkt, der mich damals geprägt hat. Und dann die utopische Literatur, die ich schon seit meiner Jugend gelesen habe. Und Marx und der ganze theoretische Krempel, der mich schon immer fasziniert hat. Als die Bewegung dann so endete, entstand plötzlich ein Loch und einige haben sich überlegt, jetzt müßten wir mal eine Liste zusammenstellen von all den Sachen, um die es grundsätzlich geht. Und ich hab dann eben in unserer WG gesagt, okay, ich mach das. Und aus dieser Liste entstand dann bolo'bolo. Es war also im Ansatz überhaupt keine Utopie, aber ich habe dann das Genre Utopie, was damals völlig out war, als literarische Form für diese Liste benützt. bolo'bolo war für meine Freunde gedacht, als Aufmunterung, privat, gegen die Verzweiflung, ich hab einen Freund nach dem anderen in die Drogenszene gehen oder sonst irgendwie verschwinden sehen, und ich fand das sehr traurig und war der Meinung, es könnte doch noch mal was kommen.

Gab es reale Modelle, die dir Vorbild waren?

Es gab konkret eine Hausbesetzung, da war ich beteiligt, das war eine städtische Siedlung mit 300 Leuten um einen Innenhof herum, und da stand eines der Häuser leer, das haben wir dann besetzt, aber leider nicht sehr lange, denn die Polizei kommt in Zürich schon nach wenigen Stunden. Aber das hätte ein bolo werden können. Später kam dann Karthago, der umgekehrte Weg: von der Theorie in die Praxis, um mal sowas experimentell zu probieren. Freunde von mir hatten Häuser am Stauffacher besetzt und ich war immer irgendwie dabei. Es gab die übliche Palette bei so Aktionen: Besetzung, Räumung, erneute Besetzung, auch mal einen Brandanschlag auf den Besitzer, juristische Rekurse usw. Aber alles hatte keinen Erfolg, und da hab ich dann als kleiner Schriftsteller im Quartier, der auch seine Arbeit zum Gelingen beitragen wollte, einen eigenen Plan für das Gebäude und seine zukünftige Nutzung vorgeschlagen, ein Angebot sozusagen an die politische Klasse. Es hätte beinahe geklappt. Aber leider kam die Wahl, die uns eine rotgrüne Mehrheit in Zürich brachte, drei Monate zu spät. Das Haus wurde jetzt doch abgerissen, aber immerhin haben wir den Abbruch sechs Jahre hinausgezögert, was für die jedes Jahr mindestens einen Verlust von einer Million an Miete bedeutete. Also ich glaube, es war nicht verlorene Mühe. Und nun machen wir mit der neuen Stadtregierung weiter und versuchen, mit denen über neue Angebote zu reden.

In deinen Werken verknüpfst du ja stets literarische Elemente mit theoretischen Analysen und Monologen. Bei Weltgeist Superstar besteht ein Drittel des Buches aus einem Anhang, in dem du eine eigene Sprache inklusive Grammatik entwickelst. Ich hatte gelegentlich den Eindruck, daß der literarischen Plot für dich eher die lästige Pflichtübung darstellt und die politische Theorie, die wissenschaftlichen Exkurse, die Erfindung neuer Sprachen die Kür.

Ich hab‘ beides etwa gleich gerne gemacht. Mein Anliegen ist ja immer das gleiche. Also, ich schreib‘ eigentlich immer das gleiche Buch wieder neu. Ich geh‘ von meinem Leben aus. Ich bin ein Beobachter, so ein bißchen ein Einzelgänger auch, der aber versucht, rumzukommen und mit vielen Leuten zu reden. Ich mach‘ immer mal irgendwo mit und dann gibt es irgendwann eine Flaute. Es läuft gerade nichts, oder? Und dann schreibe ich das auf, was sich bei mir in der Zwischenzeit aufgestaut hat. Ich rede nicht gerne in großen Versammlungen und so staut sich das auf, bis es buchreif ist.

Welche Funktion hat die komplette Entwicklung einer eigenen Sprache?

Es hat schon einen Wert. Im politischen Diskurs wird die Sprache instrumentalisiert, fast wie bei den Juristen. Das war damals, Ende der 70er Jahre, besonders stark. Die RAF zum Beispiel erklärte, sie hätte Schleyer „im Namen der proletarischen Justiz hingerichtet“. Ich bin nicht der Meinung der Linguistik, daß die Laute eines Wortes mit seiner Bedeutung nichts zu tun haben. Die Welt ist schon ein wenig intimer konstruiert, als man glaubt, oder? Dahinter steckt also sowas wie eine sprach-ökologische Absicht. Es spielt auch eine Rolle, ob ich meine Texte mit einer Füllfeder in ein chinesisches Notizbuch schreibe oder mit Bits im Computer speicher. Man muß auch mit Information einen ökologischen Umgang pflegen. Ich will jetzt nicht mit dem Dadaismus anfangen, aber Sprache ist nicht nur ein Vehikel für Botschaften. Sie ist auch eine Art von Musik.

Erzähl noch was zu deinem neuen Werk, an dem du gerade arbeitest.

In der Schweiz entsteht jetzt eine politische Szene, die jenseits der Grünen ist und auch jenseits der Linken. Das hat viel zu tun mit dieser Anti-Armee-Abstimmung, die wir hatten. Dann damit, daß viele frustriert sind von den grünen Geschichten, weil die zuwenig durchdacht sind; man merkt's allmählich, daß diese paar Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung es nicht bringen, daß kein Programm da ist. Diese Leute sind jetzt heimatlos, aber natürlich sehr aktiv in Bürgerinitiativen usw. Und diese Leute treffen wir jetzt auf unseren Amberland-Tingelreisen durch Schweizer Kleinstädte sehr häufig, und wir merken, daß es eine Reihe von Leuten gibt, die sich für diese boloiden Ideen interessieren und das System gerne auf dieser Ebene knacken wollen. Viele beginnen auch, kaufen Land usw., und dann entstehen natürlich viele praktische Fragen. Es tauchen etwa Ängste auf, danach nicht auf den Füßen zu landen. Und die Linke kann ihnen diese Angst nicht nehmen, denn die reden gar nicht über das Danach, die reformieren ja immer nur vor sich hin, oder? Das ist nicht interessant. Wir haben dann irgendwann gesagt, jetzt muß man ein ganz solides Buch mit soliden technisch-ökonomischen Antworten machen. So liefern wir mit dem nächsten Buch das Material dazu, wie man eine Gegend wie die Schweiz umwandeln könnte. Die Basis unseres Werkes ist das Statistische Jahrbuch der Schweiz.

„Wir“? Du hast Mitautoren?

Ja, denn das Buch kann ich nicht alleine machen, weil der p.m. ein bißchen zu flippig ist, dem würden sie das vielleicht nicht abnehmen. Und dann hat sich das ergeben, daß wir einen Alphirten, selbst auch Autor, der schon 15 Jahre lang hundert Rinder auf den Alpen hütet und sich in einem Gebirgstal unter den Bauern festgesetzt hat und mit denen auch über bolo'bolo diskutiert, getroffen haben. Der schreibt jetzt einen Teil des Buches, sozusagen aus der Perspektive der Bergbauern. Der zweite Autor ist ein Architekt und Informatik-Ingenieur, der momentan mit dem größten Computer in der Schweiz schafft, und der macht das andere Ende der Geschichte, die High-Tech-Strukturen, und setzt sich damit auseinander, wie man da runterkommt. Es geht letztendlich darum, wieviele Arbeitsstunden hier im Land für was ver(sch)wendet werden. Es wird ein Sachbuch in Form von Geschichten, von Szenarien geschrieben. Es geht stilistisch schon ein bißchen in die Richtung von Daniel Wieners Oekostadt Basel. Leute, die etwas realisiert haben, erzählen, wie sie es geschafft haben, mit welchen Strategien. Das sind natürlich Strategien für ängstliche Leute. Denn Schweizer sind alle ängstlich. Das Buch ist auch sehr brav konzipiert. Wir machen da keine radikalistische Folklore. Und schließlich treffen wir drei Autoren uns in Olten, dem geographischen Mittelpunkt der Schweiz, und so heißt das Buch dann auch: Olten - alle aussteigen! Nach meinen Berechnungen bliebe dann noch ein Tag in der Woche, der für formelle Industriearbeit benötigt würde.

Weltgeist Superstar, 1980, 392 S., 25,- DM; tripura transfer, 1982, 223 S., 25,- DM; Zwischen Regenwald und Permafrost, 1984, 172 S., 10,- DM (alle Stroemfeld/Roter Stern Verlag, Basel/Frankfurt); bolo'bolo, 1983/89, 201 S., 10,- DM; Amberland, 1989, 207 S., 26,- DM (beide: Paranoia City Verlag, Zürich)