DAS LETZTE LOCH

■ Im eigenen Weltbild eingeklemmt

Seit Kindestagen beschäftigt mich der Holzschnitt mit dem Mönch, der das gläserne Firmament durchstoßen hat und staunend bemerkt, daß sich dahinter der endlose Raum auftut. Er kriecht. Den Oberkörper hat er bereits zur Hälfte durch die Öffnung gezwängt. Wie durch eine niedrige Dachluke schaut er ins Freie.

Die Luke im Firmament, überhaupt das Firmament - das ist nur seine Einbildung, sein Weltbild, dessen Trugcharakter er gerade erkennt. Seine gebückte Haltung zeigt, daß der Trug noch wirksam ist. Es wird noch Zeit vergehen, bis er bemerkt, das die Glasglocke gar nicht existiert und daß die Sterne nicht an ihr festgemacht sind. Daß er aufrecht immer weitergehen kann, nie an die Glocke stoßen wird, die Sterne aber auch niemals wird greifen können.

Unsere Glasglocke war die Mauer. Sie simulierte uns das geschlossene Weltbild. An ihr prallten wir ab, viele sehr schmerzhaft, manche tödlich; auf sie malten wir die Träume, die Illusionen, durch sie kamen die Besucher aus dem Nirgendwo, die wir in einer jener unsagbaren Vorhöllen erwarteten, dem Bahnhofsraum Berlin-Friedrichstraße beispielsweise. Nur einmal hindurchsehen dürfen, was wohl dahinter ist...?

Neulich erging es mir ähnlich wie dem Mönch. Mitja und sein Sohn Danilo waren zu Besuch gekommen, unsere besten Freunde aus Moskau. Olga war vor einigen Tagen am Brustkrebs gestorben, und wir hatten die beiden eingeladen, weil sie zu Hause nicht aus der Depression herauskamen. Natürlich wollten sie auch West-Berlin sehen. Für uns war das ja nur noch eine kurze Kontrolle des Personalausweises, aber die beiden wurden nicht durchgelassen, weil sie kein Visum hatten. So mußten wir ein Loch in der Mauer suchen. Es wurde mein letzter Thriller mit der Mauer.

Wir fanden ein Loch, nach längerer Suche. Jemand hatte Betonplatten aufgeschichtet, hinter denen in Mannshöhe ein Loch in die Mauer gestemmt war, so daß man gerade durchkriechen konnte. Beim Durchklettern als letzter blieb ich in den sperrigen Armiereisen hängen und befand mich in der Lage des Mönchs. Allerdings umgekehrt. Ich war mit den Beinen zuerst geklettert und hing jetzt mit dem Bauch im Westen, während der Kopf noch im Osten war.

Der Kopf ist noch im Sozialismus, alle Reflexe funktionieren auf alte Weise. Würde die Mauer wieder versiegelt, dann könnte alles wie bisher so weitergehen. Vorerst jedenfalls. Aber der Leib ist schon draußen. Die vierzig Jahre sind vorbei. Es gibt kein Zurück. Brüchig wie die erratischen Reste der einst furchterregenden Mauer ist unser inneres Weltbild nur noch ein Trümmerfeld. Der Käfig DDR ist niedergerissen. Vorbei ist es mit der warm -unbehaglichen Enge, mit der miefigen Gemütlichkeit. Jeder Tag bringt neue Gesetze, neue Waren, neue Zeitungen, neue Angebote; wir zögern aber, den Gummianzug mit dem geringen Reibungskoeffizienten anzuziehen und smartes Westbewußtsein abzustrahlen. Jeder, der es schafft, wirkt unecht, als spiele er im Laienspiel den Besuch aus dem Westen.

Jens Reich